Gebildete Kindheit

Handbuch der Bildungsarbeit im Elementarbereich

Teil 1: Bildung und Lernen

 

1.4 Warum sich Kinder selbst bilden

Aus diesen Überlegungen zu Bildung und Lernen ergeben sich weit reichende Schlussfolgerungen für die Weise, in der sich Kinder im Elementarbereich ihre Welt aneignen.

Bildung ist Selbstbildung

Zunächst zur Form kindlicher Bildung: Wenn Bildung bedeutet, vielfältige Erfahrungen und Lernprozesse miteinander in einer Struktur zu verknüpfen, die die Entfaltung der individuellen Anlagen, Strebungen und Bedürfnisse gerecht wird und zugleich dem Individuum ermöglicht, handelnd auf seine Umwelt einzuwirken, dann ist jetzt zu ergänzen: Da schon einzelne Lernvorgänge ein aktives und individuelles Verarbeiten voraussetzen, kann auch die Struktur, die sie alle aufeinander bezieht und die besondere Ausprägung der Persönlichkeit ausmacht, nur selbständig ausgebildet und aufgebaut werden: Bildung ist Selbstbildung.

Das sich selbst programmierende Kind

Kinder entwickeln die Strukturen, mit denen sie ihre soziale, sachliche und geistige Welt erfassen, aus ihren Erfahrungen heraus selbst. Sie gehen dabei von grundlegenden einfachen Verhaltens- und Verarbeitungsmustern aus. Diese Muster prägen sich in überlebensfähigen, individuellen Variationen unterschiedlich aus. Durch die Erfahrungen aus der Begegnung mit anderen Menschen und mit der umgebenden Wirklichkeit erweitern und differenzieren sie sich. (...) Wenn man das Denken der kleinen Kinder mit dem Computer vergleicht, könnte man sagen, dass Babys und kleine Kinder von einem Programm ausgehen, mit dessen Hilfe sie einfache Probleme lösen, die sich ihnen stellen. Indem sie diese lösen, überarbeiten sie aber auch die Programme und verändern sie nach den Erfahrungen, die sie gemacht haben. In diesem Sinne ist frühkindliche Bildung in erster Linie Selbst-Bildung und wird entlang den Erfahrungen gewonnen, die Kinder in ihren Lebenszusammenhängen machen. Die wichtigste Erfahrung, die Kinder dabei machen, ist die Erfahrung, welche Bedeutung das hat, was sie erleben oder erfahren. Diese Bedeutung wird im Prozess des sozialen Austausches erfahren: Deshalb ist Selbstbildung immer nur als Selbstbildung innerhalb sozialer Bezüge denkbar. (...)

Erwachsene werden also von Anfang an gebraucht, aber nicht, damit sie den Babys und kleinen Kindern etwas "beibringen", sondern damit sie die Lebensbedingungen und Alltagszusammenhänge, in denen kleine Kinder leben, so gestalten, dass die Kinder die Kräfte, die sie haben, neugierig forschend einsetzen können (Schäfer 2003, S. 31 und 34).

Jedes Kind konstruiert seine eigene Welt

Es ist wichtig, sich klarzumachen, welche Folgen diese Feststellungen haben: Jedes Kind wird sich demnach seine eigenen Bilder von der Welt konstruieren, in der es aufwächst, wird seine eigenen Handlungsmuster entwickeln, die seinen besonderen Erfahrungen und seiner Umwelt entsprechen. Über die erfolgreiche Anwendung auf seine Handlungen wird es seine Selbstwahrnehmung und sein Selbstbewusstsein aufbauen.

Wie sich das Kind Welt aneignet, indem es Welt konstruiert

Es setzt seine Sinneseindrücke mit eigenen Aktivitäten in Zusammenhang und ordnet ihnen auf diese Weise Bedeutung zu. Es konstruiert selbstinitiativ und in Interaktion mit der belebten und unbelebten Umgebung in Kopf und Körper eine komplexe Struktur, die mehr ist als ein bloßes Abbild der Umgebung. Sie besteht einerseits aus mehr oder weniger vernetzten und mit emotionalen Wertigkeiten (Gefühlstönungen) verknüpften Detailwahrnehmungen auf den verschiedenen Sinnesebenen und ist andererseits mit Handlungen, Handlungsabsichten, Handlungskontexten verbunden, die den Wahrnehmungen eine (subjektive) Bedeutung zuweisen.

Wir meinen dieses selbsttätige Bemühen des Kindes um Weltaneignung und Handlungskompetenz, wenn wir von Bildung als Selbstbildung im doppelten Sinn sprechen: Bildung durch Selbst-Tätigkeit und Bildung des Selbst als dem Kern der Persönlichkeit. Bildung – so verstanden – wäre also der Anteil des Kindes an seiner eigenen Entwicklung (Laewen/Anders 2003, S. 61)

Vorgefertigte, von den Erwachsenen übernommene Muster würden sich demgegenüber als unzulänglich erweisen, weil sie die eigene Wahrnehmung und die daraus abgeleiteten Konstruktionen nicht berücksichtigen können. Werden von außen gesetzte Muster übernommen, die nicht in die eigene Persönlichkeit integriert und durch eigene Erfahrungen nachvollzogen werden, besteht die Gefahr, dass sie die aktive und der eigenen Person angemessene Weltaneignung verkürzen. Sie führen dann zu starren Ordnungsmustern, denen sich der Einzelne unterwirft, die aber dann auch in anderen Bereichen seine Selbständigkeit und seine Fähigkeit, selbstverantwortlich zu handeln, beeinträchtigen.

Diese Unterwerfung unter erzwungene Verhaltens- und Denkweisen charakterisiert jene Persönlichkeitsstruktur, die als "autoritärer Charakter" bezeichnet wird. Die Grundlage dafür wird in frühester Kindheit gelegt, indem schon der Säugling nach schematischen vorgegebenen Anweisungen behandelt wird, nicht nach den individuellen und subjektiven Wahrnehmungen seiner Betreuer. Sie wird im Kleinkindalter fortgesetzt durch die rigide Durchsetzung erzieherischer Normen, deren Befolgung auch mit physischer Gewalt gesichert wird. Das Kind wird darüber die Bedeutungen übernehmen, die ihm die Erziehenden aufzwingen, und seine eigenen Deutungen unterdrücken. Das Ergebnis: Er wird lebenslang Vorschriften benötigen, die ihm sagen, wo es langgeht, und es wird unfähig werden, Erkenntnisse und Wissen eigenständig in verantwortliches Handeln umzusetzen.

Bedeutungen müssen gefunden werden

Bedeutungen werden also nicht von Person zu Person (z.B. vom Erwachsenen zum Kind) transportiert, vielleicht dadurch, dass man sie ausspricht. Bedeutungen müssen gefunden werden und zwar aus dem Lebenskontext, der einem Kind durch seine subjektive Erfahrung zur Verfügung steht. Selbst wenn man erklärt, was etwas bedeutet, muss das Kind die Bedeutung dieser Bedeutung für sich erst aus seinem eigenen Erfahrungszusammenhang realisieren. Mögliche Bedeutungen mitteilen sichert noch lange nicht, dass diese Bedeutungen individuell auch nachvollzogen werden. (...) In Bildungsprozessen treffen subjektive Bedeutungshorizonte auf ein Material, das mit sozialen oder kulturellen Bedeutungen aufgeladen ist. Sie ereignen sich, wenn diese sozialen oder kulturellen Bedeutungen aus den subjektiven Bedeutungshorizonten erschlossen werden können und beide Bedeutungsdimensionen eine Verbindung eingehen (...).

Die Fütterung des Säuglings nach einem abstrakten Vierstundenrhythmus fügt das Kind in einen anderen Bedeutungshorizont ein als ein Bemühen zwischen Mutter und Kind, einen gemeinsamen Rhythmus zu finden. Das Verhältnis des Kindes zu sich wie zu seiner umgebenden Welt wird auf solche Weise grundlegend bedeutungsvoll abgestimmt. Diese Bedeutungserfahrungen werden durch die folgenden Erfahrungsprozesse weiter entwickelt oder korrigiert. Die Ausgangsstruktur kindlicher Bildung ist damit sehr individuell und von den ersten Welt- und Selbsterfahrungen abhängig (Schäfer 2004, Kap 2, S.4 und10).

Selbstbildung braucht den Partner

Selbstbildung meint also keinesfalls, dass Kinder sich ohne Zuwendung von Erwachsenen bilden würden oder dass sie gar sich selbst überlassen werden sollten. Familiäre und außerfamiliäre Bezugspersonen stellen die prägende Umgebung der Kinder dar. Die Beziehungen zu und die Unterstützung durch Erwachsene bieten zunächst die entscheidenden Anstöße zur kindlichen Selbstbildung. Dazu treten der Umgang der Kinder untereinander, der im Kindergarten eine wachsende Bedeutung erhält, und schließlich Ausstattung und materielle Umgebung, in der die Kinder aufwachsen.

Die kindliche Selbstbildung wird gefördert, wenn Kinder in einer anregenden Umgebung und im Zusammenleben mit Erwachsenen und Gleichaltrigen Aktivitäten und Interessen verfolgen können, die von den Erziehenden unterstützt und weiter vertieft werden. Bildung entsteht in sozialen Prozessen zwischen den Kindern ebenso wie zwischen Erwachsenen und Kindern und in ständiger Auseinandersetzung mit der materiellen Umwelt.

Wenn Fertigkeiten, Fähigkeiten und Wissen nicht gelehrt werden können, sondern von den Kindern in tätiger Auseinandersetzung erworben werden müssen, brauchen sie Gelegenheiten, um sich damit auseinanderzusetzen. Die Handlungen, die sie an den Erwachsenen oder anderen Kindern beobachten, erlauben ihnen, sie probeweise nachzuahmen oder auch zu verwerfen. Geschicklichkeiten und Fertigkeiten, die ihnen vorgemacht werden, reizen dazu, sich selbst an ihnen zu versuchen. Erklärungen, die Zusammenhänge herstellen, können gemerkt und daraufhin geprüft werden, wie weit sie die eigenen Fragen sinnvoll beantworten. Was Kinder sich in Selbstbildung aneignen, hängt also unmittelbar davon ab, wie viel an Anregungen, Vorbildern, Tätigkeiten und Erklärungen ihre Umgebung bietet.

Für die Bildungsarbeit der Fachkräfte in den Einrichtungen ist darum entscheidend, wie viel sie an anregenden Angeboten machen, wie umfassend diese Angebote den Erfahrungshorizont der Kinder erweitern und ob sie so gemacht werden, dass sie den kindlichen Wahrnehmungsweisen, ihren Fragen und Bedürfnissen entsprechen. Und schließlich kommt es darauf an, auch die materielle Umwelt in der Einrichtung so zu gestalten, dass sie eine höchst mögliche Vielfalt an Anregung bietet.

Gerd E. Schäfer (Hg.): Bildung beginnt mit der Geburt. Förderung von Bildungsprozessen in den ersten sechs Lebensjahren, Weinheim 2003

Begründung der kindlichen Selbstbildung und Schlussfolgerungen für die Arbeit in Kindergärten

Hans-Joachim Laewen/ Beate Anders (Hg.): Bildung und Erziehung in der frühen Kindheit. Bausteine zum Bildungsauftrag von Kindertageseinrichtungen, Weinheim 2003

Bildung, Selbstbildung und Erziehung, Methodik der Bildungsarbeit

Hans-Joachim Laewen/ Beate Anders (Hg.): Forscher, Künstler, Konstrukteure. Werkstattbuch zum Bildungsauftrag von Kindertageseinrichtungen, Weinheim 2002

Selbstbildung, Bildungsgeschichten von Kindern, Arbeitsbögen für die Bildungsarbeit

"Ko-Konstruktion" statt "Selbstbildung"?

Um diese Abhängigkeit von den Arrangements der Erwachsenen zu unterstreichen wird der Begriff kindlicher "Selbstbildung" teilweise abgelehnt und stattdessen von "Ko-konstruktion" gesprochen, eine Bezeichnung, die zunächst für die wechselseitigen Lernprozesse zwischen den gleichaltrigen Kindern geprägt wurde. Ob man von Selbstbildung oder Ko-Konstruktion spricht, macht für die praktische Bildungsarbeit keinen wesentlichen Unterschied, sondern nimmt eher eine Verschiebung der Schwerpunkte vor. Während Selbstbildung die Eigenaktivität des Kindes herausstellt, betont Ko-konstruktion den Anteil der erwachsenen Fachkräfte. Für gelingende Bildungsprozesse der Kinder werden immer beide Seiten benötigt werden.

Das Recht des Kindes aus den heutigen Tag

Für Bildung und Lernen von Kindern im Kindergartenalter ist dabei zu beachten:

Erwachsene (oder auch ältere Schüler) sind zwar durchaus in der Lage, über einen gewissen Zeitraum ihre körperlichen und sinnlichen Wahrnehmungen, ihre Handlungsimpulse und selbst ihre Gefühle zurückzustellen, und sich auf sprachlich vermittelte kognitive Inhalte zu konzentrieren. Sie können das, weil sie aufgrund ihrer längeren Zeitperspektive davon ausgehen, dass sie die aufgenommene Information in der Zukunft befähigen wird, angemessener und befriedigender handeln zu können. Sie können deshalb, sofern sie ausreichend motiviert sind, Fähigkeiten und Wissen über formellen Unterricht und in Kursen erwerben

Kinder im Elementarbereich dagegen haben in diesem Alter noch keine lange Zeitperspektive, sie muss sich erst allmählich entwickeln. Was für sie zählt, ist fast ausschließlich der gegenwärtige Anreiz: Welche Eindrücke die laufende Tätigkeit ermöglicht, was damit im Augenblick anzustellen ist, welche Vorstellungen sie anspricht, das Spiel, das darüber mit andern Kindern in Gang kommt, die Beziehung, die sich dabei herstellt. Kinder brauchen deshalb, wie es Janusz Korczak ausdrückte, das "Recht auf den heutigen Tag".

Über diese unmittelbaren Interessen, Gefühle und Handlungen sind die Dinge und Personen ihrer Umwelt zu "begreifen", erhalten Menschen und Gegenstände Bedeutungen, hinterlassen Spuren, die weitertragen, in neue Erfahrungen eingehen und neue Bedeutungen hervorbringen. Im unvermittelten Augenblick wird deshalb stets auch für "später" gelernt.

Selbstbildung und gesellschaftliche Veränderung

Weil Anregungen und Angebote aktiv und selbständig verarbeitet werden, führt Bildung auch immer zur Abweichung von den Vorgaben und den Erfahrungen der Elterngeneration. Es ist diese tätige und kritische Aneignung, die die Voraussetzung zur ständigen gesellschaftlichen Weiterentwicklung schafft. Wer Bildung in aneignender Selbstbildung erworben hat, wird in der Lage sein, Kultur, Wirtschaft und Gesellschaft zu erneuern und neuen Herausforderungen "innovativ" zu begegnen.

Es ist unter diesem Gesichtspunkt sicher alles andere als zufällig, dass das pädagogische Konzept der "Selbstbildung" in den letzten Jahren ausgearbeitet und als Leitlinie einer frühkindlichen Bildung gefordert wird. Die sich beschleunigenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Änderungen können immer weniger in ihren langfristigen Folgen und den sich daraus ergebenden Lebensbedingungen vorausgesehen werden. Eine Bildung, die allein auf die gegenwärtigen oder auch die von uns vermuteten zukünftigen Lebensbedingungen bezogen wäre, die Kindern nur die Kenntnisse und Denkweisen zu vermitteln suchte, die wir heute für angemessen halten, riskiert, ihnen gerade die sogenannte "Zukunftsfähigkeit" zu erschweren.

Kataloge von Kompetenzen, die in den nächsten Jahrzehnten gebraucht würden, setzen immer voraus, dass wir eine zutreffende Einschätzung künftiger Anforderungen besitzen. Sieht man sich heute die Prognosen an, die in 60er Jahren von der "Zukunftsforschung" erstellt wurden, dann zeigen sie sich hauptsächlich als Verlängerungen der damaligen Zustände. Auch die gegenwärtig von allen Seiten bemühte "Wissensgesellschaft" liefert zu wenig Anhaltspunkte, um daraus Schlussfolgerungen auf künftig gebrauchte Kompetenzen zu ziehen. Sie bezieht sich nur auf einen vereinzelten Punkt, bei historischen Entwicklungen spielen jedoch sehr viele Faktoren ineinander, die noch kaum verlässlich abzuschätzen sind.

Auch die Geschichte der Pädagogik zeigt, wie fragwürdig es ist, für Werte und Anforderungen zu erziehen, die Kinder in der Zukunft brauchen würden. Die Lebenserfahrung der heutigen älteren Generation etwa, die mit den Erziehungsmaximen der 50er Jahre aufwuchsen, waren jahrelang damit beschäftigt, anerzogene Maximen wieder loszuwerden, weil sie nicht mehr in die sich entwickelnde Gesellschaft des westdeutschen "Wirtschaftswunders" passten. Die Generation davor hatte ihre Probleme, die völkischen Denkweisen abzulegen, die für die nächsten tausend Jahre gedacht waren und mit dem Kriegsende zum alten Eisen gehörten. Die Beispiele ließen sich fortsetzen.

Für die pädagogische Arbeit, gerade im Bereich frühkindlicher Bildung, wo entscheidende Grundlagen gelegt werden, erscheint es sinnvoller, die Fähigkeit von Kindern zu fördern, sich von klein auf aktiv mit ihren gegenwärtigen Lebensbedingungen auseinander zu setzen und daraus die für sie bedeutsamen Schlussfolgerungen zu ziehen. Wenn sie lernen, das hier und heute zu tun, werden sie es auch in ihrem späteren Leben zu tun wissen, unabhängig davon, wie ihre konkreten Lebensbedingungen und die Gesellschaft, in der sie dann leben, sich gestalten werden.


11.10.2004