Gebildete Kindheit

Handbuch der Bildungsarbeit im Elementarbereich

Vorrede

 

Die von den mangelhaften PISA-Ergebnissen der Schulen ausgelöste Debatte über die Qualität unseres Bildungssystems hat viele Fachkräfte in den Einrichtungen des Elementarbereichs unsicher und ratlos gemacht. Denn sehr rasch wurde aus den Ergebnissen der Schulleistungstests geschlossen, Kinder würden schon mit ungenügenden Grundlagen in die Schulen kommen. Damit wird die Qualität ihrer Arbeit und die Anstrengungen um eine Verbesserung der pädagogischen Arbeit im Elementarbereich, die in den letzten beiden Jahrzehnten erreicht worden sind, mit einem Federstrich in Frage gestellt.

Dazu ist prinzipiell festzuhalten: Der Rückschluss von Testergebnissen 15-jähriger Schüler auf deren mangelhafte Förderung im Kindergarten ist weder schlüssig noch tatsächlich nachweisbar. Die PISA-Resultate zeigen zunächst, dass unsere Schulen nicht in der Lage sind, Kinder innerhalb von nahezu einem Jahrzehnt so zu unterrichten, dass sie ausreichende Lese- und Schreibfähigkeiten besitzen und zu mathematischem Denken befähigt sind. Noch niederschmetternder ist die Feststellung, dass der Schulerfolg insgesamt vor allem von der sozialen Lage der Eltern abhängt. Das aber sind Probleme der Schule und müssen durch eine Änderung des Schulunterrichts behoben werden. Der Verweis auf den Elementarbereich lenkt hier vom tatsächlichen Problem ab.

Eine andere Frage ist, ob und wie weit der Auftrag der Einrichtungen im Elementarbereich, Kinder nicht nur zu betreuen und zu erziehen, sondern auch zu bilden, durch eine Erweiterung der Arbeitsfelder und der Methoden verbessert werden kann. Die Erfüllung dieses in der deutschen Elementarpädagogik relativ neuen Anspruches hätte auch ohne die Diskussion um die schlechten PISA-Werte geführt werden müssen, und dass sie nun aufgrund der mangelhaften Schulleistungsmessungen ins Licht der Öffentlichkeit gerät, ist die positive Seite dieser allzu aufgeregten Diskussionen.

Die Notwendigkeit einer angemessenen Bildungsarbeit in den Einrichtungen des Elementarbereichs stellt sich nicht erst, seit deutsche Schüler bei Schulleistungstests ungenügend abschnitten. Sie hat wesentlich weiter reichende Gründe, und sie sind in den Lebensbedingungen unserer Kinder zu suchen. Es sind die einschneidenden Veränderungen in ihrer Lebenswelt, die dazu zwingen, die pädagogische Arbeit im Elementarbereich neu zu definieren und umzugestalten.

Dazu treten auf der andern Seite veränderte gesellschaftliche Anforderungen, die mit dem Schlagwort von der zukünftigen "Wissensgesellschaft" begründet werden. Das Schlagwort suggeriert ein Wissen um zukünftige Entwicklungen, über das wir in dieser sicheren Weise jedoch nicht verfügen. Es ist allerdings absehbar, dass schon die gegenwärtigen Anforderungen an qualifizierte Erwerbsarbeit wie an gesellschaftliche Verantwortung von den Ausbildungseinrichtungen insgesamt kaum erreicht werden. Neben den grundlegenden Kenntnissen, wie sie in den Schulleistungstests erhoben wurden, und einem Fachwissen, das darauf aufbauen muss, werden in immer weiteren Bereichen der Arbeitswelt Befähigungen erwartet wie Selbständigkeit bei der Erfüllung von Aufgaben, Kreativität im Finden neuer Lösungen, Zusammenarbeit in Arbeitsgruppen, Kommunikationsfähigkeit und dergleichen mehr. Das aber sind "Kompetenzen", die eine ausgeglichene und umfassend "gebildete" Persönlichkeit voraussetzen. Darum ist es kein Zufall, dass der Begriff der Bildung eine neue Aktualität erfährt, nicht nur, aber besonders im Elementarbereich.

Die Frage ist nur, wie und unter welchen Voraussetzungen im Elementarbereich Grundlagen von "Bildung" gelegt werden können. In der öffentlichen wie der wissenschaftlichen Diskussion fehlt es nicht an Ratschlägen, Büchern und Konzepten, die sicherzustellen versprechen, dass die heutige Kindergeneration schon im Kindergarten mit den "Kompetenzen" ausgestattet wird, die sie in der "Wissensgesellschaft" brauchen werde. Gute Ratschläge werden zuhauf gegeben, in den Einrichtungen dagegen fehlt es trotz guten Willens oft am Notwendigsten: am Personalschlüssel, an der Ausstattung, an der Vorbildung wie an der Weiterbildung und nicht zuletzt an der Bezahlung und dem öffentlichen Ansehen des Berufsstandes. Zusätzlich werden auch noch in allen Ländern Rahmenpläne erlassen, die erfüllt werden sollen, ohne dass die dafür benötigte "Strukturqualität" gesichert ist. Lohnt es sich unter diesen Umständen überhaupt von der Verbesserung der "Bildungsarbeit" zu reden?

Es lohnt sich, darüber nachzudenken, was Ratschläge, Konzepte, Methoden oder Rahmenpläne überhaupt bewirken können. Wir haben in Deutschlands Schulen seit Jahrzehnten sicher die ausgefeiltesten Lehrpläne, ganz abgesehen von einer umfangreichen wissenschaftlichen "Schulbegleitforschung". Offenbar hat das die Qualität der Bildung in deutschen Schulen nicht ausreichend gesichert. Inzwischen sollen das standardisierte Leistungstests zuwege bringen. Auch dahinter darf man ein Fragezeichen setzen. Bildung und Lernen beruhen auf der Kommunikation zwischen Lehrenden und Lernenden, deren Qualität ist auch über ausgefuchste und durchdachte Lehrmaterialien, Lehrpläne und Leistungsmessungen nicht zu gewährleisten. Bildung entsteht in der Beziehung, die sich zwischen Lehrpersonen und Schülern entwickelt. Dieser entscheidende Faktor aber wird in der pädagogischen Diskussion oft übergangen oder zu wenig berücksichtigt.

Noch mehr als für schulische Bildung gilt das für den Kindergarten. Im Elementarbereich hängt Erziehung, Lernen und Bildung noch entschiedener von der Beziehung zu den Kindern ab. Bildung wird deshalb so gut oder so mangelhaft sein, wie die Fachkräfte sie unter den gegebenen Umständen zu fördern fähig sind. Was in Konzepten oder Rahmenplänen empfohlen oder auch gefordert wird, wird nur so weit Wirkung zeigen, wie es von den einzelnen Fachkräften umgesetzt werden kann. Wenn hier die Ansicht vertreten und begründet wird, dass sich Kinder Bildung in "Selbstbildung" aneignen müssen, bedeutet das auch, dass sich jede Erzieherin ihre Weise, die kindliche Bildung zu fördern und zu unterstützen, selbst erarbeiten muss. Sie wird und sie darf sich von der ihrer Kollegin unterscheiden, denn es ist ihre Person, über die Kinder die Impulse bekommen, die ihre Neugier und ihren Wissensdurst anregen.

Das heißt aber für die Empfehlungen, Konzepte, Methoden usw., die zur Unterstützung der Bildungsarbeit gegeben werden: Es können keine Patentrezepte sein, die man nur anwenden muss, um die gewünschten Ergebnisse zu erreichen. Es sind letzten Endes immer nur Anregungen, die jede Fachkraft auf ihre Arbeit übertragen und an ihre Möglichkeiten anpassen muss. Die folgenden Ausführungen versuchen deshalb, eher das Nachdenken über die eigene Tätigkeit und die Phantasie anzuregen, was über die bisher vertraute Praxis hinaus noch ausprobiert und in die eigene Arbeit eingefügt werden könnte. Der Nachdenklichkeit sollen die zahlreichen Hinweise auf die Entwicklung von Kindern sowie Seitenblicke auf die Geschichte der Kindergartenpädagogik und ihre gesellschaftlichen Aufgaben dienen. Auch die knappen und meist nur angedeuteten Beispiele zur alltäglichen Bildungsarbeit bieten kein geschlossenes Programm, sondern sind als Anregungen zu verstehen, die eigene Arbeit an bestimmten Punkten neu zu durchdenken und nach Bedarf zu verändern.

Auch wird im Wesentlichen nur auf die Anregung und Förderung kindlicher Selbstbildung eingegangen. Andere Bereiche der Arbeit in den Einrichtungen des Elementarbereichs wie beispielsweise Probleme der Erziehung, der Leitung und Organisation des Hauses, der begleitenden Elternarbeit oder des Übergangs zur Grundschule werden allenfalls am Rande berücksichtigt.

Da die Darstellung so angelegt ist, dass auch einzelne Abschnitte getrennt benutzt werden können, finden sich im Text einige Überschneidungen und Wiederholungen.

Die eingestreuten Literaturhinweise, in denen ausführlichere Beispiele und Beschreibungen nachgelesen werden können, stellen nicht die einzig brauchbaren Hilfen für die Arbeit dar. Die Literatur zur pädagogischen Arbeit in den Einrichtungen, und vor allem die zur Förderung frühkindlicher Bildung, ist in den letzten Jahren schier unübersehbar angewachsen und zeigt durch ihre schiere Menge, wie wenig verlässlich wir sagen können, wie eine angemessene Förderung auszusehen hat. Die hier getroffene Auswahl ist also durchaus subjektiv und am persönlichen Kenntnisstand des Verfassers ausgerichtet.


11.10.2004