Gebildete Kindheit

Handbuch der Bildungsarbeit im Elementarbereich

Teil 3: Die Bildungsbereiche

 

Will man den Kindern in den Einrichtungen die Möglichkeit eröffnen, ganzheitlich zu lernen und sich ihre Welt in Selbstbildung aneignen, können keine isolierten fachspezifischen Lerneinheiten präsentiert werden. Denn Wahrnehmungen und Beobachtungen der Kinder, die bei einem ganzheitlichen Vorgehen zum Ausgangspunkt aller Bildungsarbeit zu nehmen sind, richten sich nicht nach vorgegebenen Fachgrenzen. Sie werden immer verschiedene Themenbereiche gleichzeitig ansprechen.

Um ganzheitliches Lernen zu ermöglichen, können aufgeworfene Fragen und Probleme in der Bildungsarbeit des Elementarbereichs nicht allein über Erklärungen abgehandelt, sondern müssen in Handlungssituationen eingefügt und über forschendes Untersuchen und Erproben erkundet werden. Dabei werden wieder neue Gesichtspunkte, Fragen und Interessen der Kinder auftauchen. Jedes starre Konzept würde das Engagement und die Neugier der Kinder rasch erschöpfen, während ein bewegliches und offenes Herangehen diesen Interessen folgen, die Fragen und Aktivitäten helfend begleiten und darüber ein forschendes und experimentierendes Herangehen aufrechterhalten kann.

Auch können die Grenzen zwischen den Bildungsbereichen nicht scharf gezogen werden. Die hier gewählte Einteilung folgt im wesentlichen der Systematik des Bremer Rahmenplans zur Bildung und Erziehung im Elementarbereich. Sie erscheint in den Rahmenplänen anderer Länder etwas abgewandelt. Tatsächlich sind die Grenzen zwischen den Bereichen recht fließend und haben für die praktische Bildungsarbeit nur untergeordnete Bedeutung.

Die Systematik der Bildungsbereiche hat nicht den Sinn, abgegrenzte Fachgebiete zu definieren. Sie dient vielmehr als Orientierung für die Fachkräfte, welche Themen prinzipiell berücksichtigt werden sollten. Sie sollen helfen, aufmerksamer für die vielen Gelegenheiten zu werden, in denen eine Hilfestellung, eine Erklärung oder eine Aktivität die selbsttätige Weltaneignung der Kinder bereichern und voranbringen kann. Sie sollen zugleich ermöglichen bei der Planung von Bildungsangeboten die Gesichtspunkte und Aktivitäten einzubeziehen, die sich aus dem Projektthema ergeben. Sie werden aber so gut wie immer quer durch verschiedene Bildungsbereiche verlaufen.

Bildungsarbeit ist übergreifend

Selbst bei einer einfachen Beschäftigung wie dem Backen von Brötchen lassen sich neben der selbständigen Herstellung von Nahrung (Gesundheit und Ernährung) und der Frage nach der Herkunft und Verarbeitung der Lebensmittel (Besuch beim Bäcker, in der Getreidemühle, beim Bauern) auch beobachten, wie die Hefe aufgeht, und es lässt sich daran eine Beschäftigung mit Hefepilzen anschließen (naturwissenschaftliches Grundwissen). Zudem können dem Teig Gesichter aufgesetzt (kreatives Gestalten), dann beobachtet werden, wie sie sich beim Aufgehen im Herd verformen, und nachgefragt werden, warum sie das tun (Experimentieren).

Ähnlich stellt der Bau einer Bewegungsbahn keine Aktion dar, die sich auf reine Psychomotorik reduzieren ließe. Das wäre der Fall, ließe man die Bahn von einer Firma aufbauen, so dass die Kinder sie nur nutzen könnten, um ihre Bewegungslust auszuleben. Eine auf ganzheitliches Lernen gerichtete Arbeit sucht die Kinder in allen Phasen einzubeziehen. Die Anlage wird dann von Anfang an mit den Kindern geplant, das Material unter ihrer Mithilfe besorgt und aufgebaut. Dabei ergeben sich zahlreiche Gelegenheiten, Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kenntnisse in weiteren Bildungsbereichen zu fördern.

Zunächst geht es darum, die beabsichtigte Anlage ausführlich zu besprechen, zusätzliche Ideen zu sammeln und sie auf ihre Realisierbarkeit hin zu prüfen. Darüber werden Diskussionsfähigkeit und strategisches Denken geübt (Partizipation und Sprachförderung).

Die Resultate können in Form von Skizzen durch die Fachkraft oder als Zeichnungen der Kinder festgehalten werden, wobei Zeichen für die einzelnen Bauteile ausgedacht werden sollten, so dass die Vorlagen auch für die Kinder "lesbar" sind und sie sich damit zugleich an den Gebrauch graphischer Zeichen gewöhnen (Benutzung von Zeichen als Vorstufe zum Lesen).

Das benötigte Material muss auf einer Liste festgehalten werden, auf der die Fachkraft das entsprechende Wort neben die Zeichen setzt. Mit Hilfe dieser Liste kann überlegt werden, woher das Material zu beziehen ist. Zunächst kann die Einrichtung auf brauchbares Material durchsucht werden. Die Kinder können zu Hause fragen, ob Eltern Material abgeben können. Mit den Kindern kann in Einkaufszentren und Firmen nachgefragt werden, ob einschlägiges Abfallmaterial oder Materialspenden zu erhalten ist. So weit Material gekauft werden muss, können wiederum Kinder mit einer Einkaufsliste unter Mithilfe der Fachkraft die Einkäufe tätigen (Erkundung gesellschaftlicher Einrichtungen).

Beim Aufbau der Anlage muss ständig auf Haltbarkeit und Statik geachtet werden. Die Kinder lernen Meterstäbe und Wasserwaagen benutzen, müssen Mengen abschätzen, Bauteile abzählen, Zahlen lesen und beobachten, unter welchen Umständen ihre Konstruktionen halten oder zusammenbrechen. Sie lernen einfache physikalische Gesetzmäßigkeiten kennen und anwenden (feinmotorische und handwerkliche Fertigkeiten, physikalische Gesetze, soziale Koordination).

Steht die Anlage und hat sie sich beim Spielen bewährt, können die Kinder, die sie gebaut haben, andere Gruppen, insbesondere jüngere Kinder, einladen und ihnen zeigen, wie man sie benutzen kann. Sie lernen dabei, andere anzuleiten und auf deren Fähigkeiten Rücksicht zu nehmen (soziales Verhalten).

Wiederum sind dabei praktisch alle hier definierten Bildungsbereiche einbezogen worden. In diesem Sinn sind die folgenden Bildungsbereiche als Bezugspunkte zu verstehen, die bei der Planung von Bildungsangeboten daraufhin zu berücksichtigen sind, ob sie Anlässe zum tätigen und forschenden Lernen bieten.

Niemand muß alles können

In den folgenden Bildungsbereichen werden zahlreiche Aspekte einer ganzheitlichen Bildungsarbeit angesprochen. Das kann die Fachkräfte entmutigen, weil sie diese Gesichtspunkte und Bereiche kaum alle berücksichtigen können. Sie haben neben dem Bildungsauftrag auch Kinder zu betreuen, die Einrichtung organisatorisch am Laufen zu halten und mit den Eltern in Kontakt zu bleiben. Sie sind außerdem weder von ihrer Ausbildung noch von ihren Interessen her in der Lage, die ganze Breite der in den Bereichen angesprochenen Themen und Zusammenhänge zu beherrschen.

Die Auflistung von Themen und Bildungsaktivitäten ist aber auch nicht so gedacht, dass die Fachkräfte sie nun nacheinander abzuhaken hätten. Sie bieten ein weites Raster, das anregen soll, in den Bereichen zu arbeiten und sich mit den Themen zu befassen, die den eigenen Fähigkeiten und Vorlieben entsprechen. Zugleich soll sie auch dazu ermutigen, neue Gegenstände und Fragen anzugehen, die bislang gemieden oder übersehen wurden. Die Breite der Angebote kann dann dadurch gesichert werden, dass sich die Fachkräfte im Team auf unterschiedliche Bereiche konzentrieren und sich gegenseitig ergänzen.


11.10.2004