Bis zur Mitte des 20. Jh.s gehörte Erzählen zu den selbstverständlichen Fertigkeiten, die von einer Erzieherin erwartet wurden. Erzählt wurden allerdings fast ausschließlich Märchen, und man suchte sich dabei an den stilisierten Wortlaut zu halten, den die Märchensammler verfasst hatten, um diese Geschichten lesbar zu machen. Mit dem Streit um die Wirklichkeitsferne und Grausamkeit von Märchen wurde dann auch gleich das Erzählen mit über Bord geworfen. Es tauchte in der Ausbildung kaum mehr auf und wurde in den Einrichtungen fast vollständig vom Vorlesen verdrängt.
Wer dennoch die Mühe nicht scheut und sich ans freie Erzählen wagt, wird dafür entschädigt: Obwohl die improvisierte Erzählung weder so durchdacht noch so sauber formuliert sein wird wie eine geschriebene Geschichte, hängen einem die Kinder an den Lippen. Sie werden die Geschichten, ähnlich wie beim Vorlesen, eine Zeit lang immer hören wollen. Und gerade Kindergartenkinder, die ja oft noch ihre Schwierigkeiten mit längeren sprachlichen Ausführungen haben, behalten Einzelheiten, aber meist auch den ganzen Bogen der Geschichte im Gedächtnis, und es kann passieren, dass die Erzähler nach Wochen, manchmal selbst nach Jahren, von den Kindern verbessert werden, wenn sie die Geschichte wieder zum Besten geben. Man wird dann bald bemerken, dass freies Erzählen die Kinder ihrerseits zum Erzählen anregt, dass sie dabei lernen, vor einer Gruppe zu sprechen, und dass sich ihr sprachlicher Ausdruck und ihre Sprachbeherrschung darüber verbessern. Erzählen kann einen wichtigen Beitrag zur Sprachförderung leisten.
Wer erzählt, bietet keinen festen Text, sondern improvisiert seinen Wortlaut im Augenblick des Erzählens. Das Erzählen von Geschichten knüpft, auch wo es um längere fiktive Handlungen geht, an das alltägliche Sprechen an.
Bei Alltagsgeschichten ist das offensichtlich: Sie werden im Rahmen von Gesprächen erzählt, und deshalb von den Regeln bestimmt, die die Unterhaltung in Gesprächen steuert. Die wichtigste Regel besagt, dass Gespräche wechselseitig verlaufen. Jeder Gesprächspartner kann gleichermaßen zur Unterhaltung beitragen, und auch während der eine spricht, reagieren die übrigen Gesprächspartner ständig auf ihn und seine Äußerungen.
Dass das auch für das Erzählen gelten soll, mag auf den ersten Blick überraschen, da es ja der Erzähler ist, der anders als beim wechselnden Sprechen im Dialog während der gesamten Erzählung das Rederecht innehat. Aber die Zuhörer lauschen der Erzählung nicht regungslos und passiv, vielmehr reagieren sie über nonverbale und verbale Äußerungen, und der Erzähler, der ja seinen Redetext während der laufenden Erzählung improvisiert, richtet seinen Wortlaut nach den Reaktionen der Hörer, schmückt die Passagen aus, die Interesse erregen, kürzt ab, sobald er auf Ablehnung stößt. Diese fortwährende, die Erzählung begleitende "Interaktion" findet unter Erwachsenen nicht anders statt als mit Kindern, auch wenn Kinder rascher und heftiger reagieren.
Wie der Erzähler seine Geschichte konstruiert, ist nicht beliebig. Um beim flüchtigen Hören verstanden zu werden, müssen erzählte Geschichten einem Aufbau folgen, den Hörer erwarten und den Erzähler deshalb beachten, um sich verständlich zu machen. Beim Schreiben lassen sich diese Strukturen variieren, man kann sie umstellen, ja sogar ganz außer Acht lassen, da der Leser in hoher Konzentration auf den Text bezogen bleibt. Erzählend hat man ihnen genau zu entsprechen.
Dieses sogenannte Geschichtenschema präsentiert einen Handlungsbogen: Es berichtet von einem Helden, der fern vom Ort und der Zeit des Erzählens mit einem überraschenden Erlebnis konfrontiert wurde, oder einen außerordentlichen Plan fasste. Damit ist dann die Frage aufgeworfen, wie er sich damit auseinandersetzt und zu welchem Ergebnis das führt.
Diese einfache "Episode" kann vielfach variiert und erweitert werden, indem sie in Wiederholungen und Reihungen wie auf eine Kette gezogen wird. Wir kennen aus dem europäischen Volksmärchen die Märchen von den drei Brüdern, von denen der Erste die gestellte Aufgabe verfehlt, dann auch der Zweite daran scheitert, der Dritte schließlich den Drachen besiegt und die Prinzessin befreit. Schon nach dem ersten Durchgang weiß jeder, was jetzt noch kommen wird, und doch kann man problemlos weiter zuhören.
Der schematische Ablauf stört uns nicht, von Erzählungen erwarten wir im Gegenteil, dass sie nach Schema verfahren. Wir erwarten aber zugleich, dass sie ihr Schema geschickt umspielen, es variieren und damit Rhythmen erzeugen, die die Erzählung tragen.
Märchen halten wir von vorneherein für reine Phantasie. Aber auch Erzählungen, die auf Erlebnisse zurückgehen und die wir deshalb für "wahr" halten, müssen sich an das vorgegebene Schema halten. Das zeigt sich schon an der Auswahl. Tatsächlich bieten ja nur die Erlebnisse Anlass zum Erzählen, in denen die alltägliche Erwartung über den Haufen geworfen wird, etwas Unerwartetes und Unerhörtes passiert, das wir zu meistern haben oder an dem wir scheitern, die also dem Handlungsschema halbwegs entsprechen. Selten genug aber haben wir Erlebnisse, die gute Erzählungen abgeben. Wo sich die tatsächlichen Erlebnisse aber nicht ins Schema fügen, wird das Erlebte ausgeschmückt und umgedichtet, bis es sich zum Erzählen eignet. Darum ist auch der Wahrheitsgehalt von Erzählungen recht fraglich, die behaupten, mitten aus dem Leben gegriffen zu sein.
Ob erlebt oder erfunden, Geschichten konstruieren so etwas wie Versuchsanordnungen, mit denen durchgespielt wird, wie es wäre, wenn alles anders laufen würde, als wir es gewohnt sind. Immer sind es die Unwahrscheinlichkeiten und Unwägbarkeiten, die in den alltäglichen Lauf der Dinge einbrechen und zu einem neuen, unerwarteten Ergebnis führen. Eine Geschichte fällt darum desto eindrucksvoller aus, je selbstverständlicher sie die unglaublichsten Verwicklungen in selbstverständlicher Folgerichtigkeit berichtet.
Diese Eigenart erklärt unsere Lust an Geschichten und deutet auf den tieferen Sinn dieser immer irgendwie unwahrscheinlichen und künstlichen Konstruktionen hin: Mit dem erzählbaren Ereignis wird die vertraute Welt unseres sozialen Alltags durchbrochen. In den Verwicklungen brechen sich Wünsche und Ängste Bahn, die wir sonst eher verstecken. Im Erzählen von Geschichten wird unsere soziale Lebenswelt verändert und "kreativ" umgebaut und umgedeutet. Es ist diese Eigenschaft von Geschichten, die sie so lustvoll und vergnüglich erscheinen lässt, für Erwachsene nicht anders als für Kinder.
Etwa zwischen vier und acht Jahren befinden sich Kinder im eigentlichen "Erzählalter". In diesem Alter agieren sie Wünsche, Probleme und Konflikte in stellvertretenden Geschichten aus, sie leben in Geschichten und erklären sich die Welt über Geschichten. Deshalb sind Kinder immer bereit, Geschichten aufzunehmen, und zwar in allen medialen Formen, seien sie erzählt, vorgelesen, einer Kassette abgelauscht oder am Bildschirm verfolgt. Das Erzählen hat gegenüber den medialen Präsentationen aber den Vorzug, dass die Kinder über den Austausch der Zuhörersignale anders an der Geschichte beteiligt werden. Darum erinnern Kinder Erzählungen sehr viel länger und genauer als mediale Geschichten.
Geschichten präsentieren Handlungen, die nicht im Hier und Jetzt stattfinden, sondern im Dort und Damals. Sie erlauben, in anschaulicher Weise die gelebte Gegenwart zu durchbrechen. Das tun Kinder auch ständig in ihren gemeinsamen Rollenspielen, deren Spielhandlungen bei den Fünf- bis Sechsjährigen sich an Geschichten annähern. Geschichten lassen sich als versprachlichte Rollenhandlungen verstehen, umgekehrt liefern Geschichten ständig Vorlagen für diese Spiele. Nicht anders als die Rollenspiele erlauben Geschichten Handlungsweisen nachzuvollziehen und auszudenken, die weit über die tägliche Erfahrung hinausgehen und in denen Erfahrungen und Vorstellungen sich miteinander verbinden.
Indem sie Geschichten aufnehmen, erhalten Kinder Stoff für ihre eigenen Phantasien, können daran ihr eigenes Innenleben ausbilden, ihre Wünsche und Ängste konkretisieren. Schließlich helfen ihnen die Vorlagen gehörter Erzählungen, eigene Wahrnehmungen, Gefühle und Gedanken in die Form von Geschichten zu kleiden und ihrer Umgebung mitzuteilen.
Wir neigen dazu, Kinder an sich für phantasievoll zu halten und übersehen dabei leicht, dass die Vorstellung zunächst durch stellvertretende Handlungen in Gang gesetzt und in Gang gehalten werden muss. Ohne das Ausagieren im Spiel können etwa zweijährige Kinder nur flüchtige Vorstellungen entwickeln. Beim gemeinsamen Spielen stützen sich die Spielenden gegenseitig, indem sie immer neue Spieleinfälle verfolgen, und damit lange Zeit im Reich ihrer Spielfiktion bleiben können. In Erzählungen verschiebt sich der Schwerpunkt auf die Sprache, aber die kindliche Phantasie braucht immer noch die Untermalung durch die gestischen Zeichen. Mit wachsender Lesefähigkeit können Kinder Phantasien immer besser ausschließlich der Sprache entnehmen, bis sie an der Schwelle zum Jugendalter die Fähigkeit ausgebildet haben, ohne jede begleitende Aktivität ausgedehnte Tagträume zu verfolgen. Das Hören und das Ausdenken von Geschichten stellt eine wichtige Stufe in der Entwicklung einer beweglichen und kreativen Phantasie dar.
Indem Kinder lernen, selbst zu erzählen, werden sie befähigt, ihre Wünsche und Vorstellungen in eine kommunizierbare Form zu kleiden und sie mitzuteilen.
Wie weit die kindliche Erzählfähigkeit ausgebildet wird, hängt von der Anregung ab, die sie in ihrem Umfeld bekommen. Aus den über Medien erzählten Geschichten können Strukturen und Mitteilungsweisen des Erzählens nur schwer übernommen werden, da sie dort selten deutlich herausgearbeitet werden. Das hat mit den medialen Darstellungsweisen zu tun. Während Erzähler beim flüchtigen Zuhören nur verstanden werden, wenn sie die Handlung knapp und folgerichtig vor Augen führen, lenken bereits die umfangreichen Beschreibungen in literarischen Erzählungen, so gekonnt sie auch formuliert sein mögen, von diesen Strukturen ab. Noch stärker verändern die Verfahren der Bildführung in audiovisuellen Darstellungen das übersichtliche Erzählschema. Kinder sind zunächst auf persönliche Erzählungen angewiesen, um die Gesetzmäßigkeiten des Erzählens zu durchschauen und selbst anzuwenden. Mit wachsender Beherrschung können auch die Strukturen literarischer und medialer Darstellung durchschaut und geordnet werden. Das Hören von Erzählungen, noch mehr das eigene aktive Erzählen hilft darum, mediale Erzählungen zu durchschauen und zu verarbeiten.
Die "Hörer" einer Erzählung sind aber eigentlich Zuschauer, denn sie folgen dem Erzähler auch mit den Augen. Alles lebendige Erzählen wird wie jede zwischenmenschliche Unterhaltung begleitet von gestischen und spielerischen Zeichen, die die sprachliche um eine anschauliche Information ergänzen und die die Zuhörer mitbekommen wollen.
Die gestische und spielerische Darstellung geht in Erzählungen allerdings über den sprachbegleitenden nonverbalen Ausdruck des Alltagsgesprächs hinaus. In Untersuchungen lässt sich feststellen, dass der Anteil bildhafter Gesten schlagartig ansteigt, sobald ein Sprecher zu erzählen beginnt. Aus einem einfachen Grund: Damit sie seiner Erzählung folgen, muss der Erzähler die Zuhörer aus dem Hier und Jetzt des Erzählens in das Dort und Damals der Erzählung entführen. Das heißt aber, er muss sie dazu bringen, die sinnliche Gewissheit der Gegenwart gegen die ungreifbare Welt seiner Fiktion einzutauschen, und das erleichtern die gestischen Zeichen des Erzählers.
Es sind vor allem zwei Spielelemente, die am lebendigen Erzählen beteiligt sind und den sprachlichen Text durchsetzen:
Beide helfen auf ihre Weise die sinnliche Gegenwart zurücktreten zu lassen und in die fiktive Gegenwart der Erzählung einzutauchen. In beiden Fällen handelt es sich um reduzierte zeichenhafte Darstellungen. Die im darstellenden Spiel ausgeführte Rolle wird beim Erzählen nur kurz an den entscheidenden Stellen der Handlung oder eines Dialogs angedeutet, um die Rolle gleich wieder zu verlassen. Jede Person erhält dabei eine typische Haltung, einen Gesichtsausdruck sowie eine eigene Stimme, um sie zu kennzeichnen. Der alte Bettler streckt mit krummem Rücken bittend die Hand vor, für das Nashorn wird der Finger über der Nase ausgestreckt. Den Grobian, der die Tür eintritt, kann ein tretender Fuß ebenso charakterisieren wie die als Fuß zustoßende Hand.
Die bildhafte Geste arbeitet noch bruchstückhafter: Sie nimmt ein Element aus einem Gesamtbild und ahmt es über die Handbewegung oder andere körperliche Ausdrucksweisen nach. Um den Bach durch die Wiese fließen zu lassen, kurven die Hände mit bewegten Fingern durch die Luft. Die Schranktür öffnet sich mit einer Vierteldrehung des vor die Brust gelegten Armes. Das reicht für den Betrachter aus, um sich das ganze damit gemeinte Bild der Wiese oder des Schlafzimmers im Kopf zu ergänzen. Die Gesten und Spielweisen des Erzählers zaubern auf überraschende und an Magie grenzende Weise Bilder in die Köpfe der Hörer. Ähnlich wie beim Betrachten von Bilderbüchern werden Bilder zum Text geliefert, nur dass die Zuhörer angeregt durch die Darstellung des Erzählers, diese Bilder in ihrer Vorstellung selbst herstellen.
Auch die Sprechweise des Erzählers ist auf die rasche und flüchtige Aufnahme ausgerichtet. Anders als der Schreibende wiederholt er gerne die gleichen Formulierungen. Während beim Lesen Wiederholungen als störend empfunden werden, erleichtern die festen Wendungen das Erzählen wie das Hören. Den Erzähler, der ja keinen festen Text vorträgt, sondern ihn im Moment des Erzählens improvisiert, entlastet die Wiederholung von der Suche nach den richtigen Worten. Aber auch der Hörer darf die Aufmerksamkeit einen Augenblick zurücknehmen. Hören ist flüchtig und bereits bekannte Wendungen lassen sich rascher aufnehmen. Es sind vor allem die sogenannten "Formeln", die sich beim wiederholten Erzählen von Geschichten einschleifen und das Erzählen beträchtlich erleichtern, weil sie als feste "Versatzstücke" Ruhepunkte bei der improvisierenden Textgestaltung setzen. Zugleich rhythmisieren sie den Sprachfluss.
Insgesamt wird das Verstehen von Erzählungen dadurch erleichtert, dass der Erzähler den Text stets an den Reaktionen der Zuhörer entlang improvisiert. Seine Sprache wird notwendigerweise vom alltäglichen Sprachgebrauch abweichen, aber anders als der stilisierte Schrifttext sich immer wieder auf die Sprachfähigkeit seiner Hörer zurückbeziehen. Wo er bemerkt, dass sie ihn nicht mehr verstehen, wird er seine Aussagen in anderen Worten wiederholen und sich in der Diktion an die Hörer anzunähern versuchen. Er muss das nicht üben, jeder Erzähler tut das selbstverständlich, solange er sich im Kontakt zu seinem Publikum befindet.
Die Bedeutung, die die gesprächsnahe Vermittlung für Kinder vor dem Lesealter hat, wird durch einen Seitenblick auf Bilderbücher unterstrichen. Bilderbücher regen die Vorstellung über die begleitenden Illustrationen an, zugleich wechseln Vorlesen des Textes und Gespräche, die das Betrachten der Bilder begleiten, einander ab. Der gelesene Text wird also ergänzt und umspielt von dem Gespräch, in das das Vorlesen eingebettet ist. Darüber wird die Erzählung "interaktiv" nähergebracht. Der geschlossene Text wird aufgebrochen, kindliche Eindrücke können in die Betrachtung einfließen, Fragen können gestellt und die Geschichte auf die Erfahrungen und Phantasien der Kinder bezogen werden.
Beim lebendigen Erzählen bebildern Gestik und Spielelemente die sprachlichen Mitteilungen. Gesten werden rascher verstanden als Sätze, einmal weil sie Bilder hervorrufen, die plötzlich auftauchen, während die Entschlüsselung von aufeinander folgenden Wortfolgen Zeit benötigt. Zudem werden sie in der Logik einer Spielsymbolik gebildet, deren Verständnis nicht von der Sprachbeherrschung, sondern von der Beweglichkeit der Spielphantasie abhängt. Gerade wo die sprachlichen Äußerungen nur annäherungsweise erfasst werden, werden Spiel und Gestik ein ungefähres Verstehen erlauben. Gesten sind ja niemals eindeutig, sie wirken wie eine Art Rätsel, das nach Entschlüsselung ruft. Den Schlüssel aber liefert die Sprache. Die hörenden Kinder werden um so mehr bemüht sein, die sprachlichen Mitteilungen zu enträtseln und sich zugänglich zu machen. Anders als manche Märchenfreunde annehmen, lenkt gestische Darstellung nicht von der Sprache ab, sondern führt zum genaueren Hinhören.
Gerade die Formelhaftigkeit des Erzähltextes unterstützt das Aufnehmen der sprachlichen Formulierung. Kinder wiederholen ja oft frisch gelernte Wörter, als ob würden sie darauf herumkauen, und das kann man auch beim Nacherzählen von gehörten Geschichten beobachten. Dieser Effekt stellt sich besonders dort ein, wo die gleiche Geste die sich wiederholende Formel begleitet.
Nun rückt aber die Erzählung in einer anderen Hinsicht vom Sprechen im Gespräch ab: Sie bietet ja ein eigenständiges und zusammenhängendes Gebilde, das sich aus der gegenwärtigen Gesprächssituation entfernt. Kinder kennen etwas Ähnliches schon aus ihren Rollenspielen, wo sie auch immer wieder aus dem Spiel heraustreten, um über die Spielhandlung und seine Fortführung zu sprechen. Ganz ähnlich müssen sie beim Hören von Erzählungen, und noch mehr, sobald sie selbst erzählen, eine doppelte Perspektive halten: Erstens die Sicht des Erzählenden, der auf die erzählten Ereignisse blickt, und zweitens die Sicht der handelnden Personen, die in der Erzählung agieren.
Der Hörer einer Erzählung überblickt grundsätzlich die Bausteine der Geschichte und entwickelt eine recht klare Erwartung, was wann aufeinander zu folgen hat. Zwar beherrschen Kinder, wenn sie selbst erzählen, das Geschichtenschema erst ansatzweise, aber sie haben diese Erwartungen schon mehr oder weniger über Geschichten, die sie gehört haben, ausgebildet. Sie können die Gesamtstruktur überblicken und ihre Aufmerksamkeit danach ausrichten. Gerade weil Erzählungen so schematisch aufgebaut sein müssen, können die Prinzipien, nach denen das sprachliche Gebilde gebaut ist, durchschaut und nachvollzogen werden.
Diese Abweichung von den offenen Beiträgen eines in Rede und Gegenrede verlaufenden Dialogs hat für das Sprachverständnis von Vorschulkindern eine wichtige Konsequenz: Sie lernen mit längeren und in sich strukturierten sprachlichen Texten unabhängig vom kommunikativen Kontext umzugehen. Sprache wird aus dem Kontext der Kommunikationssituation herausgelöst und als eigenständiges Gebilde wahrgenommen. Damit wird eine wichtige Voraussetzung für den Umgang mit geschlossenen Texten geschaffen, den das Lesen und Schreiben voraussetzt. Erzählen setzt damit einen wichtigen Baustein "Literalität".
Über die Sprachförderung hinaus bieten Geschichten aber auch eine Menge an beiläufigen Informationen und fördern darüber das Weltverständnis. Ich will nur einige Punkte andeuten:
Diese zufälligen und unvorhersehbaren Lerneffekte sind nicht auf Erzählungen beschränkt, ähnliche Wirkungen ergeben sich bei allen Geschichten, die Kinder aus Büchern oder Medien aufnehmen. Beim offenen Erzählen werden sie sich allerdings meist besser einprägen, da dabei ja jederzeit Nachfragen oder Erklärungen eingeschoben werden können, mit denen solche Wissenssplitter genauer erfasst werden.
Wenn Kinder im zweiten Lebensjahr ihre ersten "Einwortsätze" äußern, lernen sie Sprechen als Instrument zu benutzen, und sie bemerken schon bald, dass sich damit mehr erreichen lässt als mit körperlichen Handlungen, über die sie sich bisher ausdrückten. Statt nach einer Tasse zu greifen, bewirken sie nun mit dem Wörtchen "tinken", dass ihnen die Tasse gebracht wird. Worte sind Zauberhände, die auch dann nach dem Gewünschten zu greifen erlauben, wenn es sich weit außerhalb der Reichweite der eigenen Hände befindet. Das Kind kann nun mit und über Sprache auf seine Umgebung einwirken.
Im dritten Lebensjahr erweitert sich die Weise, Sprache zu benutzen: Ein Kind mag sich nun beispielsweise erinnern, dass am Vortag die Tasse umgestoßen wurde und die Milch über den Tisch lief. Es wird dann vielleicht seine leere Tasse umstoßen und sagen: "Mich weg". Der Erwachsene, der die verschüttete Tasse miterlebte, wird verstehen, dass sich das auf den Vortag bezieht, und die kindliche Äußerung vervollständigt wiederholen: "Ja, gestern hast du deine Tasse umgestoßen und die Milch ist über den Tisch gelaufen". Bald wird das Kind dann in der Lage sein, dieses Ereignis mit seinen wachsenden sprachlichen Ausdrucksmitteln mehr oder weniger wiederzugeben, so dass es auch Nichtbeteiligte verstehen können. Damit hat es im Ansatz gelernt, zu erzählen.
Worin liegt der Unterschied zwischen beiden Äußerungen? Statt in einer gegebenen Situation mit Sätzen auf diese Situation einzuwirken, wird die Handlung von gestern, die heute nur noch in der Vorstellung des Sprechenden existiert, mit sprachlichen Mitteln nachgestellt. Diese Handlung lebt aber nur noch in der Erinnerung, und sie teilt diese luftige Existenz mit unseren Phantasien. Deswegen mischen sich beim Erzählen Phantasie und Erlebtes so leicht, und häufig genug können wir sie selbst nicht mehr auseinander halten.
Das trifft um so mehr auf kleinere Kinder zu: Zwar unterscheiden sie sehr genau zwischen "echt" und "ausgedacht", grenzen damit aber die sinnliche und gegenwärtige Welt, in der man mit Menschen handeln und auf Dinge einwirken kann, von der Welt ihrer Vorstellung ab. Was gestern und vorgestern passierte und nur noch in ihrer Erinnerung lebt, gehört genauso zum Ausgedachten wie ihre Phantasien oder Träume. Erzählend bilden sie nach, was sozusagen auf dem Bildschirm ihrer inneren Wahrnehmung erscheint. Werfen wir ihnen dann vor, sie würden doch nur lügen, beschneiden wir ihre Vorstellungswelt und hindern sie am Erzählen.
Übrigens macht auch unsere Sprachverwendung hier keinen Unterschied, erzählt doch der Zukunftsroman unbesehen in den sprachlichen Formen der Vergangenheit.
Erzählen fällt Kindern schwerer als das Sprechen im alltäglichen Umgang. Aus einem einfachen Grund: Beim alltäglichen Sprechen beziehen sie sich zunächst auf Menschen und Dinge, die gegenwärtig wahrnehmbar sind. Erzählend müssen sowohl die Handlungen wie die Situationen, in denen gehandelt wurde, nachgestellt und damit für die Hörer vorstellbar gemacht werden. Erzählen erscheint deshalb später als alltägliches Sprechen. Es setzt erst ein, wenn komplexere grammatische Bezüge beherrscht werden, insbesondere die Vergangenheitsformen, das heißt im dritten und vierten Lebensjahr.
Das gilt allerdings nur für das sprachliche Erzählen. Schon bevor sie mit Sätzen zu erzählen wissen, verstehen Kinder kleine Erzählungen über gestische Zeichen mitzuteilen. Schon die umgestoßene leere Tasse hat eine andere Qualität als das Greifen nach der fernen Tasse. Es ist eine Art Spielgeste, die das Ereignis der verschütteten Milch nachbildet. Es ist kein Zufall, dass diese Art gestischer Darstellung auch bei verbesserter Sprachbeherrschung alle Erzählungen durchsetzt.
Zunächst erzählen Kinder von ihren alltäglichen Erlebnissen. Ihre „Erzählungen“ bestehen oft nur aus Aufzählungen der gewöhnlichen alltäglichen Verrichtungen, der sogenannten „Skripts“. Häufig mischen sich dabei aber auch schon Phantasien und außergewöhnliche Ereignisse ein, wie im Beispiel der umgestoßenen Tasse. Auch behaupten Kinder dann steif und fest, dass es so und nicht anders gewesen ist. Sie berichten dabei letzten Endes das, was auf dem „Bildschirm ihrer inneren Wahrnehmung“ erscheint, und das sind Erinnerungen ebenso wie Wunsch- oder Angstphantasien. Sie lernen darüber jene Mischung aus Erleben und Vorstellung zu produzieren, die jede gute Erzählung ausmacht.
Zunächst fällt es den meisten Kindern jedoch leichter, Tageserlebnisse sprachlich wiederzugeben, von den Erfahrungen zu berichten, die von der erwarteten täglichen Routine abweichen und sich deshalb als erzählenswert darstellen. Indem sie davon vor den anderen berichten, ordnen sie zugleich ihre Erinnerung, machen sie sich darüber bewusst und lernen sie in sprachlichen Äußerungen weiterzugeben. Da die sprachliche Formulierung gerade beim Erzählen größere Schwierigkeiten bereitet als im handelnden Umgang, hilft es den Erzählern, wenn sie ihre Rede mit deutlichen Gesten unterstreichen können. Das geht von einem festgelegten Platz im Stehen besser als im Sitzen. Manche Kinder wird es aber auch hemmen, allein einem „Publikum“ gegenüber zu sehen. Dann sollten sie natürlich auch von ihrem Stuhl aus erzählen dürfen.
Johannes Merkel: Spielen, Erzählen, Phantasieren – Die Sprache der inneren Welt, München 2000
Darin enthalten ausführliche Darstellung, was Geschichten ausmacht und Erzählen bedeutet, sowie der Entwicklung der kindlichen Erzählfähigkeit von den Anfängen bis ins Schulalter.
Anders als der abgeschlossene Text des Schriftstellers sind die locker gewebten Texturen einer Erzählung offen für Variationen und Ergänzungen. Sie werden durch eine Zwischenfrage nicht zerrissen, sondern erweitert. Sie öffnen sich darüber den Assoziationen und Phantasien der Zuhörer, werden reicher und komplexer. Auch eingestreute Erklärungen, Variationen und Anmerkungen stören nicht, sondern gliedern sich problemlos in die Interaktion zwischen Erzähler und Hörer ein. Erzählungen stehen deshalb auch für erzählende Beiträge des Publikums offen. Kinder können sehr einfach zum Miterzählen angeregt werden, womit nebenbei ihre literarische Produktivität geweckt und gefördert wird.
Kinder lernen zwar die Strukturen von Geschichten sehr früh kennen, aber es fällt ihnen lange recht schwer, sie in eigenen Erzählungen zu gestalten, es gelingt ihnen noch kaum eigenständig eine vollständige Geschichte zu konstruieren. Bekommen sie dagegen die "Spielregel" über die erzählten Episoden vorgegeben, dann können sie ohne weiteres einsteigen und sich am Erzählen beteiligen. Je öfter sie die Gelegenheit dazu hatten und die Befriedigung spürten, dass sie selbst erzählen können, desto eher werden sie beginnen, vor anderen auch ganze Geschichten zu improvisieren.
Zum Miterzählen eignen sich jene Erzählungen besonders, in denen das gleiche Handlungsmuster wiederholt und variiert wird. Wir kennen dieses Prinzip aus den überlieferten Kettenmärchen. Die Reihung erlaubt, das Handlungsgerüst rasch zu durchschauen, und erleichtert es, dazu selbst eine Episode auszudenken.
Um ein bekanntes Beispiel aus Grimms Märchen zu nehmen: Sobald der Pfannkuchen sich selbständig gemacht hat, durch die Landschaft rollt und ihm zwei oder drei Mal Gestalten über den Weg laufen, die ihn verzehren wollen, denen er aber listig entwischt, ist das Grundmodell vorgegeben, das sich beliebig erweitern lässt. Ich brauche nur zu fragen, wer ihm als nächster über den Weg läuft, und kann einem zuhörenden Kind für eine Episode die Erzählerrolle überlassen. Am Ende hänge ich meine Schlussepisode an, in dem er seinem Schicksal nun doch nicht entgeht.
Dabei können sich auch schon Kinder beteiligen, die noch über geringe Sprachkenntnisse verfügen. Sie werden vielleicht auf die Frage, wer dem Pfannkuchen als nächster begegnet, nur kurz "Fuchs" einwerfen. Der Erzähler kann das aufnehmen und eine Episode mit einem Fuchs improvisieren. Die Befriedigung, dass ihre Idee in die Geschichte eingefügt wurde, stellt einen Anreiz dar, sich bald mehr an der Ausarbeitung der Geschichte zu beteiligen.
Denn Erzählungen regen Kinder an, sich selbst am Erzählen zu versuchen. Man braucht nur die eigene Erzählung mit der Bemerkung zu beenden: "Ich habe euch erzählt, vielleicht erzählt ihr jetzt mir", und fast immer schlüpft ein Kind in die angebotene Erzählerrolle.
Am selbstverständlichsten ergibt sich das, wenn es in ein spielerisches Ritual eingebettet wird. Zum Beispiel, indem man einen Erzählerstuhl einführt, den man dann natürlich auch selbst benutzt: Er hat die wundersame Eigenschaft, seinem "Besitzer" eine berückende Geschichte einzuflößen. Kaum lässt man sich darauf nieder, beginnt es zu kribbeln und schon macht sich im Kopf eine Geschichte breit. Vor einer größeren Gruppe empfiehlt sich eher eine Erzählermütze oder eine anderes bewegliches Zeichen, weil damit im Stehen erzählt werden kann.
Wenn sich Kinder melden, die Deutsch als Zweitsprache sprechen, sollte ihnen übrigens erlaubt werden, in ihrer Muttersprache zu erzählen. Meist lauschen die übrigen Kinder fasziniert den fremden Klängen. Man kann daraus auch ein Ratespiel machen, indem die übrigen Kinder berichten, was sie sich vorgestellt haben. Mit etwas Glück gibt es vielleicht sogar ein anderes Kind in der Gruppe, das als "Übersetzer" dienen und das Rätsel auflösen kann. Damit ist beiden geholfen, dem erzählenden Kind, das vor allen andern spricht, wie dem Übersetzenden, der seine Sprachkenntnisse demonstrieren durfte.
Wiederum wird man bei den Erzählungen der Kinder beobachten können, dass sie Strukturen und Rhythmen der gebotenen Erzählung benutzen und sie neu einkleiden, sie mit anderen Helden und eigenen Phantasien ausstatten.
Die erzählten Geschichten werden auch bei ausgeprägter gestischer Erzählweise kaum mit dem ersten Erzählen vollständig aufgenommen. Sie können auf verschiedene Weise nachbereitet werden und sich darüber genauer einprägen.
Es empfiehlt sich, zu festen Terminen zu erzählen und dabei zunächst eine beim vorigen Termin erzählte Geschichte unter Beteiligung der Kinder zu wiederholen. Dabei kann man die Erzählung mit den Kindern rekonstruieren, indem man den Einstieg erzählt und dann nach dem Fortgang fragt.
Man kann auch, sofern die Kinder zustimmen, die Geschichten nach mehrmaligen Erzählen in einer Textfassung vorlesen, die dann weitgehend von den Kindern verstanden werden kann.
Eine wichtige Form der Nachbereitung, die das Verständnis stärkt und zugleich die Phantasie anregt, stellt das Nachspielen in Form von Rollenspielen dar. Dabei beginnt man den Einstieg der Geschichte noch einmal zu erzählen, um das Spiel in Gang zu setzen und fügt immer wieder dort erzählende Sätze ein, wo die Kinder stocken. Häufig ergeben sich beim Nachspielen witzige Abwandlungen und überraschende Einfälle.
Aufgefordert, zur Geschichte zu malen, werden Kinder die Szenen herausgreifen, die sie am stärksten beeindruckten. Die Zeichnungen können wieder zur Rekonstruktion der Story benutzt werden, indem sie in der Reihenfolge der Handlung aufgehängt werden und an die gehörte Geschichte erinnern. Sie lassen sich auch zu einem selbst gemachten Bilderbuch zusammenfügen.
Schließlich können eigene Geschichten als Vorlagen für kleine Medienprojekte dienen. Dem sind im Kindergarten zwar enge Grenzen gesetzt, weil die Kinder noch kaum die Ausdauer und Übersicht aufbringen, die dafür nötig ist. Neben dem schon erwähnten Erstellen eines eignen Bilderbuches bietet sich vor allem die Herstellung eines Hörspiels an, die relativ rasch und ohne großen technischen Aufwand zu leisten ist, jedenfalls sofern man keine großen Anforderungen an die Tonqualität stellt.
Das Erzählen von Geschichten kann Kindern, die eine andere Muttersprache sprechen, nicht die Beherrschung des Deutschen vermitteln. Es kann allerdings neben dem alltäglichen “Sprachbad” und einer gezielten Sprachförderung eine wichtige Anregung bieten. Erzählen kann insbesondere den Zweitspracherwerb jener Kinder unterstützen, die schon in der Lage sind, sich in Gesprächen in der fremden Sprache einigermaßen zu behaupten.
Beim Vorlesen oder Betrachten von Bilderbüchern fühlen sich Migrantenkinder sehr häufig ausgeschlossen und wenden sich ab, weil sie über zu wenig Sprachkenntnisse verfügen, um den Texten zu folgen. Beim Erzählen vor Kindergruppen kann man immer wieder beobachten, wie aufmerksam und fasziniert sie auch dann noch zuhören, wenn sie nur wenig davon zu verstehen scheinen. Mit einer Vortragsweise, die auf sie zugeschnitten ist, lassen sich Erzählungen so anlegen, dass sie von diesen Kindern besser verstanden werden und über das Interesse an der Geschichte deren Sprachbeherrschung verbessern helfen.
Die Erfahrung zeigt, dass auch Kinder mit geringen Deutschkenntnissen durch eine Erzählweise gefesselt werden, die nonverbale gestische Darstellung und Spielelemente mit der sprachlichen Präsentation der Erzählung verbindet. Diese Erzählweise macht die Erzählung andeutungsweise verständlich und führt dazu, dass sich die Aufmerksamkeit der Kinder auf die Entschlüsselung der sprachlichen Aussagen richtet. Die gestische Darstellung erzeugt eine Art Rätseleffekt, der die hörenden Kinder motiviert, die Erzählung auch in ihren sprachlichen Anteilen verstehen zu wollen.
Um den Kindern mit anderer Muttersprache die Erzählungen zugänglich zu machen, ist zu beachten:
Die aktive Sprachbeherrschung wird gefördert, indem die Kinder die vorgeführten sprachlichen Formeln und Geschichten selbst anwenden und darüber Modelle für einen regelgerechten Sprachgebrauch übernehmen. Dazu werden die erwähnten Formen des Miterzählens und Nachbereitens auf die Sprachkenntnisse der fremdsprachoigen Kinder zugeschnitten.
Bei diesen Auftritten werden Kinder aufgefordert, auch in ihrer Muttersprache zu erzählen. Meist lauschen die übrigen Kinder fasziniert den fremden Klängen. Man kann daraus auch ein Ratespiel machen, indem die übrigen Kinder berichten, was sie sich vorgestellt haben. Mit etwas Glück gibt es vielleicht sogar ein anderes Kind in der Gruppe, das als „Übersetzer“ dienen und das Rätsel auflösen kann. Damit ist beiden geholfen, dem erzählenden Kind, das vor allen andern spricht, wie dem Übersetzenden, der seine Sprachkenntnisse demonstrieren durfte. Das doppelte Hören (und Sehen der gestischen Begleitung) in der Erst- und Zweitsprache bietet einen weiteren wirksamen Lernanlass. Zugleich wird damit die muttersprachliche Kompetenz gewürdigt und mit der Zweitsprache verbunden.
Kinder, denen häufig erzählt wird, lieben es, selbst Geschichten zu erfinden. Allerdings haben sie oft noch Probleme, ihre Einfälle zu einer Geschichte anzuordnen und sich verständlich auszurücken. Sie brauchen dazu die Unterstützung durch die Großen. Es ergibt sich dabei eine fruchtbare und befriedigende "Arbeitsteilung": Die Kinder schlagen ihre Ideen vor, die Erwachsenen achten darauf, dass die Einfälle in einen Zusammenhang gebracht werden, was wiederum die Kinder sehr befriedigt, weil aus ihren Ideen eine richtige Geschichte entsteht, die sich erzählen, aber auch malen oder aufschreiben lässt. Allerdings darf dann die Gruppe nicht zu groß ausfallen, zu empfehlen sind Grüppchen von circa vier bis fünf Teilnehmern, weil sonst ihre Einfälle zu sehr auseinanderlaufen.
Ideen und Vorlagen für Erzählungen lassen sich ausarbeiten, indem man beliebiges Bildmaterial verwendet. Man schneidet dazu Abbildungen im gleichen Format aus alten Illustrierten aus und sammelt sie auf einem Stapel. Jede Gruppe oder jedes Kind darf sich ein Dutzend Abbildungen vom Stapel nehmen und versucht sie dann so zusammenzulegen, dass sich eine Geschichte ergibt. Kinder haben zwar kaum Probleme, zu den Bildern zu phantasieren, sie machen dabei aber gerne wilde Sprünge. Die Geschichte muss deshalb mit den Kindern auf Konsequenz und Brauchbarkeit kontrolliert und abgeändert werden.
Folgerichtiger fallen die Geschichten aus, wenn die Bilder eine Person oder den gleichen Personenkreis in unterschiedlichen Situationen zeigen. Dazu kann man auch selbst Fotos machen oder Kollagen aus Fotos im Vordergrund und gedrucktem Bildmaterial als Hintergrund anfertigen. Diese Fotos sollten möglichst unabgeschlossene Handlungen festhalten, da sie dadurch für jede Richtung offen bleiben. Ein Mensch, der beispielsweise mit der Klinke in der Hand in einer halb geöffneten Tür steht, kann das Haus betreten oder auch verlassen.
Ein weiteres Verfahren besteht darin, eine Reihe Gegenstände in einer Kiste anzubieten, die für die Geschichte zu benutzen sind. Ein anregender Gegenstand wird zur Hauptfigur ernannt, seine Erlebnisse werden dann mit Hilfe anderer Teile aus der Kiste dargestellt. Das kleine Löffelchen kann zum Kind des Eisproportionierers erklärt werden, die gemeinsam auf eine Reise gehen. Eine alte Pralinenschachtel dient als Fahrzeug, aber schon an der nächsten Ecke werden sie vom Suppenschöpfer aufgehalten, der als Polizist nach ihrem Führerschein fragt. Übrigens eignen sich jene Gegenstände am besten, die viele Funktionen ausfüllen können, und Küchengeräte bieten sich dafür wegen ihrer alltäglichen Vertrautheit ganz besonders an. Aber auch Werkzeuge wie Hammer und Zange oder Tücher in verschiedenen Formen und Farben empfehlen sich durch ihre vielseitige und überraschende Verwendbarkeit. Ähnlich wie beim Bilderlegen sollte die Anzahl Gegenstände begrenzt sein, wieder am besten nur etwa ein Dutzend, damit sie überschaubar bleiben und sich mit ihnen charakteristische Figuren entwickeln lassen.
Es lohnt sich, solche Improvisationen mit einem Kassettengerät aufzunehmen oder in Stichworten festzuhalten. Daraus lassen sich oft brauchbare Geschichten ausarbeiten oder sie können als Vorlagen dienen, um im Rahmen eines Medienprojekts ein eigenes Produkt herzustellen.
Claussen, Claus/ Merkelbach, Valentin: Erzählwerkstatt, Braunschweig 1995,
Verschiedene Verfahren zum Geschichtenerfinden mit Kindern in der Grundschule, die zum Teil auf Kindergärten übertragbar sind
Gianni Rodari: Grammatik der Phantasie. Die Kunst Geschichten zu erfinden, Leipzig 1992.
Erfinden von Geschichten über Sprachspiele und Gegenstände. Rodari arbeitete damit auch in den Reggio-Kindergärten
Eva-Maria Kohl: Spielzeug Sprache. Ein Werkstattbuch, Neuwied 1995
Vorschläge zum Erfinden von Geschichten Gedichten über Anfänge, Gegenstände, Wörter sowie zum Herstellen von kleinen "Publikationen" für Kindergarten und Grundschule
Vor allem von Kindern, die daran gewöhnt sind, sich Geschichten auszudenken, können sich die Fachkräfte auch Geschichten diktieren lassen. Diese Geschichten können dann vor der Gruppe vorgelesen werden. Es ist sehr zu empfehlen, das Lesen mit einer Vorführung zu verbinden: Entweder das Kind, das sich die Story ausdachte, oder ein Kind, das vom Geschichtenerfinder ausgewählt wurde, führt während des Lesens Bewegungen dazu aus (also stellt etwa mit aufgereckten Armen den Baum dar, der eine Tür im Stamm hatte. Die Tür kann dann mit einer Viertelbewegung des Armes vor dem Bauch geöffnet werden). Das darstellende Kind darf sich die Vorstellung vorweg ausdenken oder mit der Erzieherin besprechen.
Tippt man die diktierten Geschichten in den Computer ein, können die Texte sauber ausgedruckt und mit nach Hause gegeben werden. Aus einer Serie von Geschichten können zusammen mit Zeichnungen kleine "Bücher" gestaltet werden.
Ingeborg Becker-Textor/ Gretl Michelfeit: Was Kindergeschichten erzählen. Kinder zuhören – Kinder verstehen lernen, München 2000
Spontan erzählte Geschichten als Sprache der Kinder, was man beim Zuhören über die Kinder erfahren und was man sonst noch mit Erzählen machen kann
Freies Erzählen erfordert zunächst zwar einige Vorbereitung, die sich aber auf die Dauer auszahlt. Denn spätestens nach dem dritten Erzählen behält man die Geschichte sehr gut im Gedächtnis und kann mit der Zeit über ein kleines Repertoire verfügen, das jederzeit genutzt werden kann.
Ohne Vorbereitung lassen sich Erlebnisse aus der eigenen Kindheit erzählen, die Kinder desto lieber hören, je näher ihnen die Erzählenden stehen. Ansonsten müssen wir uns die Vorlagen für Erzählungen aus Büchern holen, und das kostet etwas Anstrengung. Diese Texte sind für das Lesen verfasst und müssen deshalb für den freieren Umgang des Erzählens aufbereitet werden.
Sofern man einen geschriebenen Text zur Vorlage nimmt, muss man ihn umformen und ihn sozusagen mundgerecht machen, um ihn frei erzählen zu können. Bewährt hat sich dafür ein Vorgehen, das man schematisch in vier Schritte unterteilen kann:
Mit dieser Vorbereitung kann man die Geschichte dann schon einmal probeweise zum Besten geben. Hat man sie etwa drei Mal erzählt, behält man sie über lange Zeit und kann immer wieder auf sie zurückgreifen.
Auch wenn ihr Wortlaut von den Bearbeitern literarisiert wurde, lassen sich doch die meisten Märchen wunderbar erzählen: Sie sind ganz auf die Handlungen ihrer Helden ausgerichtet und verfolgen ohne Abschweifungen das mit dem Einstieg genannte Thema. Allerdings enthalten sie auch viele Elemente aus der ländlichen Gesellschaft, in der sie entstanden und weitererzählt wurden, die sich Kinder heute schwer vorstellen können, die ländlichen Arbeitsweisen etwa oder die Gerätschaften, mit denen gearbeitet wurde. Man sollte sich nicht scheuen, sie zu erklären. Beim offenen Erzählen wird das Märchen durch solche Einschübe nicht gestört.
In Buchhandlungen und Bibliotheken werden unzählige Sammlungen von Märchen angeboten. Die Tatsache, dass sich eine Erzählung in diesen Sammlungen findet, heißt noch nicht, dass sie auch gut erzählbar ist oder dass man sie erzählen sollte.
Zwei Grundsätze sollten bei der Suche nach erzählbaren Vorlagen beachtet werden:
Es sind in jeder Sammlung nur wenige Märchen, die sich für das eigene Erzählen anbieten. Es bleibt deshalb die Qual der Wahl. Die folgende Sammlung vereint sehr unterschiedliche und meist gut erzählbare Vorlagen und kann deswegen für das Suchen nach geeigneten Vorlagen sehr empfohlen werden. Sie ist in verschiedenen Ausgaben erschienen und wird praktisch in jeder Bibliothek geführt.
Lisa Tetzner: Märchen für 365 und einen Tag
Gut erzählbare, meist kurze Märchen aus verschiedenen Zeiten und Kulturen
Größere Schwierigkeiten bereiten literarische, von Schriftstellern verfasste Erzählungen, die von vorneherein für das Lesen geschrieben sind. Hier ist bei der Auswahl darauf zu achten, dass sie ausreichend Handlung bieten und sie in einer klaren übersichtlichen Weise entwickeln.
Einige wenige Schriftsteller schreiben in einer Diktion, die sich ohne weiteres erzählen lässt. Das gilt zum Beispiel für die Geschichten von Heinrich Hannover, die fast so zu erzählen sind, wie sie im Buch stehen.
Heinrich Hannover:
Diese Ausgaben erschienen in der Rotfuchsreihe des Rowohlt- Verlages und sind, soweit sie im Buchhandel nicht mehr erhältlich sind, über Jugendbibliotheken zu bekommen.
Vorlagen für Erzählungen können kostenfrei der folgenden Webseite entnommen werden: Dort findet sich auch eine Anleitung, wie geschriebene Vorlagen in mündliche Erzählungen überführt werden können sowie ein Beitrag zum gemeinsamen Ausarbeiten von Geschichten in einer Kindergruppe.
Merkels Erzählkabinett
Geschichten zum Erzählen und Vorlesen
Internetadresse: www.uni-bremen.de/~stories