Gebildete Kindheit

Handbuch der Bildungsarbeit im Elementarbereich

Teil 1: Bildung und Lernen

 

1.1 Was heißt hier Bildung?

Es ist sicher kein Zufall, dass der ehrwürdige Begriff der Bildung gerade in der Diskussion um die Pädagogik des Elementarbereichs wieder belebt wurde.

Er war lange aus dem Vokabular selbst der Bildungsfachleute ver­schwunden. Man sprach zwar vom "Bildungssystem", von "Bildungseinrichtungen" oder von der "Bildungspolitik", aber sobald es um Lehrpläne und Inhalte ging, sprach man lieber von "Ausbildung" und "Qualifikation". Der Begriff der Bildung schien zu abgegriffen und in seiner Bedeutung zu sehr abgeflacht zu sein. Bildung wurde längst mehr oder weniger mit einem festen Bestand an Kenntnissen gleichgesetzt, letzten Endes auch nur mit höherer Schulbildung: Wer das Gymnasium besucht hatte, war gebildet. Insofern unterschied sich der Begriff nicht mehr von Ausbildung.

Zwei Entwicklungen verhalfen dem Bildungsbegriff zu neuem Glanz: Einerseits zeigte sich gerade im Bereich spezialisierter akademischer Ausbildung an den Universitäten, dass neben der Fachbildung übergreifende Fähigkeiten (wie Diskussionsfähigkeit oder öffentliches Auftreten) zu kurz kamen. Andererseits wurden im Berufsleben, und insbesondere von der Wirtschaft, neben Fachkenntnissen zunehmend auch allgemeine Qualifikation (Teamarbeit, Kommunikationsfähigkeit und Menschenführung) erwartet. Das sind aber Eigenschaften, die sich auf die Persönlichkeit beziehen und nicht mehr ohne weiteres in fachorientierten Kursangeboten geschult werden können, und im übrigen in der Fachausbildung gar nicht vorgesehen wurden.

Der klassische Bildungsbegriff

Der in Deutschland gültige Begriff der "Bildung" wurde Ende des 18.Jh.s von Wilhelm von Humboldt geprägt, um die entscheidende Zielsetzung des neu entstehenden höheren Schulwesens zu benennen. Kennzeichnend für Humboldts Bildungsbegriff war, daß er sich nicht auf die Beherrschung spezieller Kenntnisse und Fähigkeiten reduzieren ließ, sondern die gesamte Persönlichkeit im Blick hatte.

Dieses Ideal menschlicher Persönlichkeit sollte erreicht werden, indem der Einzelne seine intellektuellen, künstlerischen, emotionalen Anlagen und Fähigkeiten vollständig und gleichmäßig entwickelte und sie in einer Mischung miteinander verband, die seine unverwechselbare Individualität ausmachte. Die gebildete Persönlichkeit zeichnete sich dadurch aus, dass sie neben speziellen Fachkenntnissen über ein breit gestreutes Wissen verfügte ("Allgemeinbildung"), dass sie mit ihren Gefühlen im Einklang lebte ("Herzensbildung") und ihren Mitmenschen und der Gesellschaft gegenüber verlässlich und verantwortungsvoll handelte ("Charakterbildung").

In seiner Entstehung war dieses Bildungsideal verbunden mit einer weit gesteckten politischen und gesellschaftlichen Perspektive: Die Erziehung zu gebildeten Persönlichkeiten, wie sie mit der Humboldtschen Bildungsreform angestrebt wurde, sollte letzten Endes dem "Fortschritt der Menschheit" dienen, indem jeder Einzelne alle Kräfte und Anlagen vollständig entfaltete und in den Dienst der Allgemeinheit stellte. Die auf die gesamte Menschheit gerichtete Sicht war ein Erbe des deutschen Idealismus und der Aufklärung, sie reduzierte sich allerdings sehr rasch auf die Hoffnung, über Bildung die gesellschaftliche und politische Zerrissenheit Deutschlands zu überwinden. In der Gemeinschaft der Gebildeten deutscher Zunge sollte die Einheit der Nation vorweggenommen werden.

Diesen hohen Anspruch konnte die in deutschen Gymnasien vermittelte "Bildung" kaum einlösen. Spätestens im deutschen Kaiserreich wurde die "höhere Bildung" zu einem bloßen Wissenskanon, zu der Mischung von Wissen und Meinungen, die man beherrschen musste, um zur besseren Gesellschaft zu zählen.

Ein verändertes Verständnis von Bildung

Bildung als Garant gesellschaftlichen Fortschrittes ging aus der historischen Situation hervor, in der das Humboldtsche Bildungsideal geprägt wurde. Bildung meint aber jenseits solch weit reichender Perspektiven zunächst die Entwicklung einer ausgeglichenen und verantwortungsvollen Persönlichkeit, die alle Fähigkeiten und Anlagen gleichmäßig ausbildet und miteinander verbindet. Und in diesem Sinn hat Bildung durchaus eine neue Aktualität erhalten. Der alte Begriff lässt sich dann etwas anders lesen.

  • Ausgehend von der wörtlichen Bedeutung kann sie als das umfassende Bild verstanden werden, das sich Menschen von sich selbst und von ihrer Umgebung machen. Dieses Bild setzt sich ja immer aus vielfältigen Eindrücken, Erfahrungen und Gefühlen zusammen, die verarbeitet und mit den Vorstellungen in Verbindung gebracht werden müssen, die bereits ausgebildet wurden. Bildung heißt dann der Prozess der ständigen Verarbeitung und Neuorganisation der inneren Strukturen, der für jeden Menschen auf eigene, sehr individuelle Weise verlaufen wird. Weder seine spezifischen Erfahrungen noch seine Schlussfolgerungen werden sich mit denen anderer Menschen vollkommen decken. Bildung führt auch hier zu einer unverwechselbaren Individualität.
  • Bildung kann immer nur in Rückbezug zur Umgebung erworben und aufrechterhalten werden. Denn auch das Bild, das ich mir von mir selbst mache, das meine Einsichten, Gefühle und Handlungen beeinflusst, entsteht erst in Auseinandersetzung mit den andern. Was ich kann, was ich weiß, ja selbst wie ich mich fühle, erfahre ich durch die Rückmeldung, die mir meine Mitmenschen geben. Wie sie mich sehen, geht in das Bild ein, das ich mir von mir mache, wird sich mit meiner Selbstwahrnehmung verbinden und sie verändern. Bildung ist dann nicht mehr ein festes Ergebnis, eine in Kindheit und Jugend ein für allemal ausgeprägte Charakterstruktur, sondern bleibt lebenslang im Fluss.
  • Dennoch baut sie auf der Grundlage auf, die in der Kindheit und im Umgang mit den entscheidenden Bezugspersonen gelegt worden sind. Alle späteren Erfahrungen werden sich ja auf diese früheren zurückbeziehen, sie verstärken oder in Frage stellen. Und alle Erfahrungen und Schlussfolgerungen werden immer die ganze Person mit einbeziehen, ihre intellektuelle Einsicht ebenso wie ihre körperlichen Eigenschaften und ihre Gefühle. Die eigene Persönlichkeit wird zwar durch feste Strukturen und Verarbeitungsweisen geprägt, die sie kennzeichnen und ihre Individualität ausmachen. Sie wird damit aber gleichzeitig ständig neue Erfahrungen verarbeiten und sich an neue Bedingungen anpassen. Dabei wird sie sich ständig verändern und weiter entwickeln.
Zu einem veränderten Bildungsbegriff

Bildung heißt, sich ein Bild machen von der Welt. Und das heißt immer auch, sich ein Bild machen von sich selbst und den anderen in dieser Welt. Damit sind Bildungsinhalte genannt: es geht nicht nur um die äußere Welt, sondern auch um die innere Welt, das innere Erleben und die Beziehung in der Gemeinschaft.

Bildung ist also immer (Weiter-)Bildung der eigenen Persönlichkeit, ist subjektiv, ist Sich-Bilden. Bildung ist immer auch (Weiter-)Bildung von Gemeinschaft, eben Bildung von Gesellschaft, ist intersubjektiv, findet also in Interaktion zwischen Subjekten statt, ist Sich-mit-andern-Bilden. Und Bildung ist immer auch Bildung an der Sache, an den Phänomenen, Dingen und Ereignissen in der Welt, in der die reichen Erfahrungen anderer und vorangegangener Epochen aufgehoben und verborgen sind und entdeckt werden können. Sie ist forschende und experimentelle Untersuchung der Natur und der Dinge sowie tätige Aneignung, ein "Sich-zu-eigen-Machen" der Erfahrungen in der Natur und des "Weltwissens" der Anderen.

Bildung ist das Streben, die eigene Initiative, in tätiger Auseinandersetzung mit den Dingen und dem Geschehen in der Welt und im gemeinsamen Tun mit Anderen eine Position, einen Standpunkt zu bedeutsamen Fragen zu entwickeln - bedeutsam für mich, bedeutsam für Andere und bedeutsam für das Geschehen in der Welt. (Preissing 2004, s.7).

Bildung und Lernen

Es ist offensichtlich, dass Bildung in dieser Sicht ständige und vielfältige Lernvorgänge voraussetzt. Nur indem neue Verhaltensweisen, Fakten, Zusammenhänge bewusst angenommen und in die Gesamtpersönlichkeit eingefügt werden, kann sich Bildung entwickeln. Sie nährt sich sozusagen von vielen einzelnen Lerninhalten.

Dennoch ist Bildung in keiner Weise mit Lernen, auch nicht mit einem umfassenden Kanon von Kenntnissen gleichzusetzen. Von Lernen sprechen wir, wenn wir den Vorrat an Informationen oder auch an Verfahrensweisen, Fertigkeiten usw. um einen spezifischen Punkt erweitern. Beim Lernen werden einzelne Informationen aufgenommen und in Beziehung zu andern Informationen gebracht. Informationen und Zusammenhänge beziehen sich jeweils wieder auf bestimmte Wissensbestände oder Fächer. Wenn ich gelernt habe, wie man einen Komposthaufen anlegt, habe ich meine Fertigkeiten, einen Garten zu pflegen, verbessert. Wenn ich weiß, welche Feldzüge Pharao Ramses III. durchführte, habe ich mein Wissen über das alte Ägypten erweitert. Keine noch so umfassende Ansammlung von Fertigkeiten und Wissen führt zu Bildung. Erst wenn diese vielen Splitter zu einem einheitlichen Ganzen zusammengefügt werden, das meine ganze Person erfasst, meine Gefühle, meine Einsichten, meine sozialen Beziehungen zu den Menschen meiner Umgebung, ebenso wie zu meiner gesellschaftlichen Umwelt einschließt, kann sinnvoll von Bildung gesprochen werden

Schon aus dieser knappen Charakterisierung wird verständlich, warum gerade in den Diskussionen um den Elementarbereich wieder von Bildung die Rede ist: Sie hat offenbar eine Nähe zu den vertrauteren Begriffen des "ganzheitlichen Lernens", der gleichzeitigen Ausprägung von körperlichen, emotionalen, sozialen, kognitiven und Selbst-"Kompetenzen", wie sie in der Elementarerziehung in der einen oder anderen Form immer wieder gefordert werden.

Was unter Kompetenzen zu verstehen ist

Es ist in der Diskussion um Bildung und Ausbildung üblich geworden, die Anforderungen, die in den Bildungseinrichtungen an die Lernenden gestellt werden, nicht mehr als feste Wissensbestände, sondern als "Kompetenzen" zu beschreiben, die dabei zu erwerben seien. Das hat den Vorteil, dass sich der Blick nicht mehr nur auf das richtet, was gelehrt wird, sondern darauf, was bei den Lernenden tatsächlich ankommt. Auf der andern Seite besteht die Tendenz, Bildung auf eine Aufzählung dafür notwendiger "Kompetenzen" zu reduzieren. Statt einem Kanon von Kenntnissen werden nun abstrakte Fähigkeiten aufgezählt, um Bildung zu beschreiben.

Als linguistischer Begriff von Noam Chomsky geprägt, meinte Kompetenz ursprünglich geradezu das Gegenteil dessen, was darunter in der gegenwärtigen Bildungsdiskussion verstanden wird, nämlich die grundsätzliche Kenntnis eines Sprachsystems im Gegensatz zur "Performanz", die die tatsächliche Beherrschung dieser Sprache bezeichnet. Inzwischen meint Kompetenz nichts weiter als eine spezielle Fähigkeit. Ich werde im Folgenden eher von "Fähigkeiten" als von "Kompetenzen" sprechen.

Neben den eigentlichen Fach-"Kompetenzen" wird von "Kernkompetenzen" und "Vorläuferkompetenzen" gesprochen. Die "Kern"- oder auch "Schlüsselkompetenzen" beziehen sich auf jene schon erwähnten Eigenschaften, die es überhaupt erst ermöglichen, fachliches Können und Wissen anzuwenden und umzusetzen. Sie werden deshalb als Ergänzung jeder fachlichen Ausbildung verstanden.

Grundsätzlich wird unterschieden zwischen:

  • "Selbstkompetenzen" oder auch "Ichkompetenzen", die sich aus sicherer Selbstwahrnehmung ergeben und selbständiges und zielgerichtetes Handeln ermöglichen. Sie umfassen untergeordnete Kompetenzen wie Selbstregulation, Körperbewusstsein, Autonomie, Frustrationstoleranz, oder auch "Resilienz", womit Widerstandsfähigkeit gemeint ist, um Krisen zu überstehen, und "Transitionskompetenz", die ermöglicht, Übergänge im Leben zu bewältigen (etwa Eintritt in den Kindergarten, Übergang zur Schule).
  • "Interaktiven Kompetenzen", die die Fähigkeit, mit Anderen zu kommunizieren, sich in Andere einzufühlen und in Gruppen zusammenzuarbeiten umfassen. Dazu gehören Einfühlungsvermögen, Kooperationsfähigkeit, Rücksichtnahme und Toleranz.
  • Schließlich werden dazu auch die allgemeinen "Lernkompetenzen" gerechnet: Die Befähigung, Wissen zu beschaffen, es zu organisieren und zur Lösung von Problemen einzusetzen oder nach einer gängigen Formel: Das "Lernen des Lernens".

Die "Vorläuferkompetenzen" beziehen sich direkter auf die Anforderungen an die Frühpädagogik: Gemeint sind Erfahrungen, die die später in der Schule geforderten Fähigkeiten vorbereiten. So kann etwa der Umgang mit und das Verständnis von abstrakten Zeichen als Vorläuferkompetenz für das Schreiben betrachtet werden. Oder das Abschätzen von Größen und Mengen als Vorstufe mathematischen Denkens.

Bildung ist mehr als ein Katalog von "Kompetenzen"

Was ist überhaupt unter Kompetenzen zu verstehen? Während bei Lernprozessen einzelne und isolierbare Tatbestände oder Fertigkeiten erworben werden, lassen sich Kompetenzen als Kategorien auffassen, die über eine Reihe von Lernvorgängen ausgebildet und dann auf neue Situationen oder Probleme übertragen werden können.

Gegenüber dem allgemeineren Begriff der Bildung scheinen "Kompetenzen" zunächst zu versprechen, sich exakter definieren und nachprüfen zu lassen. Prinzipiell können sie dann als erworben gelten, wenn sie selbstverständlich auf unterschiedliche Handlungssituationen angewendet werden. Diese umfassende Anwendung aber kann im Kindergartenalter noch kaum durchgehend vorausgesetzt werden. Wie weit längst beherrschte Fähigkeiten auch in ihrem jeweiligen Handeln berücksichtigt werden, hängt von der gegebenen Handlungssituation und den Motiven des Kindes ab. Ein Kind mag etwa Mengen und Größen sehr genau unterscheiden, wenn es darum geht, einen Kuchen zu verteilen. Das bedeutet noch lange nicht, dass es das auch beim Spielen mit didaktischem Material oder bei Tests tun wird. Die Präzisierung, die der Kompetenzbegriff zu gewährleisten scheint, bietet er vor allem für die theoretische Unterscheidung wichtiger Fähigkeiten, die über die Bildungsarbeit zu erreichen sind.

Für die Bildungsarbeit im Elementarbereich sind deshalb Kompetenzlisten wenig hilfreich. Einmal erscheint schon die Zusammenstellung einigermaßen willkürlich. Zum andern bereitet es Schwierigkeiten, die Vermittlung solcher abstrakt definierten Befähigungen in der pädagogischen Arbeit zu konkretisieren. "Der Ansatz erschöpft sich in der Aufzählung von Kompetenzen, ohne dass deutlich wird, wieso gerade diese Fähigkeiten ausgewählt wurden, in welchem Verhältnis sie zueinander stehen und welche wichtiger oder weniger wichtig sind. Es bleibt weitgehend offen, auf welche Weise die Kompetenzförderung erfolgen soll und an welchen Inhalten Fähigkeiten ausgebildet werden sollen" (Textor 2004, S.8).

Weil Kinder in diesem Alter ganzheitlich und in Tätigkeit lernen, kann für den Elementarbereich weder ein verbindlicher Kanon von Kompetenzen und noch von unverzichtbaren Wissensbeständen aufgestellt werden. Gerade wegen seiner umfassenden Offenheit zeigt sich der Bildungsbegriff im Elementarbereich als brauchbarer: Er integriert alle vereinzelten Kompetenzen und betrachtet sie in ihrem Zusammenhang.

Ziele von Bildung

Ziel ist nicht ein Repertoire bestimmter Fähigkeiten, die man angeblich alle einmal brauchen wird. Das ist zu kurz gedacht in einer kulturellen und techno­logischen Dynamik, deren weltweite Auswirkungen wir von Generation zu Generation nicht mehr überschauen können. Ziel ist vielmehr, Körper und Geist als Werkzeuge der Wahrnehmung, des Handelns, des Denkens und Findens von Lösungen neuer, bisher nicht gedachter Fragen, weitestmöglich auszubilden (Schäfer 2000, S.16).

Bildung meint die Ausbildung einer selbstsicheren und handlungsfähigen Persönlichkeit. Bildungsarbeit vertraut deshalb darauf, dass die Lernenden sich die angebotenen Lerninhalte in einer Weise aneignen, die ihrer Vorgeschichte, ihren Vorkenntnissen, ihrer eigenen Individualität entsprechen. Wenn das gelingt, kann sie weiter darauf vertrauen, dass die "Gebildeten" in der Lage sein werden, neue Anforderungen zu bestehen und sich dafür nötige neue Kenntnisse zu erwerben. Bildung kann sich deshalb nicht in der Aufzählung von Kompetenzen erschöpfen, Bildungsarbeit nicht darauf beschränken, Kompetenzkataloge abzuarbeiten.

 

 

 

 



11.10.2004