Gebildete Kindheit

Handbuch der Bildungsarbeit im Elementarbereich

Teil 1: Bildung und Lernen

 

1.5 Lernen in der Schule und Lernen im Leben

Aus den bisherigen Überlegungen zum Lernen und zur Bildung geht nicht zwingend hervor, man müsse eine Bildungseinrichtung besuchen, um Bildung zu erwerben oder überhaupt etwas zu lernen. Unterricht und Schule wären demnach keine zwingende Voraussetzung für Lernen und Bildung.

Vom "natürlichen" Lernen

Es ist eigentlich eine Binsenweisheit, dass sich Lernen nicht auf Unterrichtung beschränkt, dass jeder Mensch über die laufende Erfahrung sein Wissen und Können erweitert und ständig weiterlernt. Aber sowohl in unserem Alltagsverständnis wie in den bildungspolitischen Diskussionen wird dieses "informelle" Lernen wenig berücksichtigt. Wo von Lernen die Rede ist, wird so gut wie ausschließlich an Unterrichtung, Schulungskurse und Lehrende gedacht. Dabei sind diese Einrichtungen ja historisch gesehen relativ junge Erscheinungen, und es ist offensichtlich, dass die Menschheit längst vor der Einrichtung von Schulen oder gar der allgemeinen Schulpflicht Erfahrungen gesammelt, Erfindungen gemacht und Wissen weitergegeben hat.

Aber auch in Gesellschaften mit einem ausgebauten Bildungswesen beschränkt sich Lernen nicht auf den Besuch dieser Einrichtungen. Auch nachdem wir eine formelle Ausbildung absolviert haben, machen wir ständig neue Erfahrungen, beobachten Vorgänge, die unsere Aufmerksamkeit erregen, hören Meinungen und setzen unsere Meinung dagegen, bekommen Nachrichten von Mitmenschen oder den Medien und machen uns einen Reim darauf. Wir nehmen also ständig Neues auf, das unser bisheriges Wissen erweitert. Ganz offensichtlich richtet sich solches Lernen nach keinem Lehrplan und braucht kein geschultes Lehrpersonal. Es setzt sich vielmehr aus vielen zufälligen Partikeln zusammen, die wir nach Art eines Puzzles allmählich zu einem größeren Bild zusammensetzen. Je dichter das Puzzle wird, desto mehr haben wir den Eindruck, etwas dazugelernt zu haben. In Abgrenzung zum systematischen Lehrgang der Schule oder der Weiterbildung könnten wir von so etwas wie einem spontanen oder "natürlichem" Lernen reden.

Auch unser Alltag verlangt uns immer wieder ab, zielstrebig und konsequent zu lernen, indem er uns vor Probleme stellt, die zum intensiven Nachdenken zwingen, auf welchem Weg wir damit zu Rande kommen könnten. Lösungswege werden dann erprobt, und sofern sie scheitern, auf neuem Wege wieder angegangen, bis uns eine passable Lösung gelingt. Wir haben auf diesem Wege nicht nur unser Wissen erweitert, sondern zugleich ein Verfahren erprobt, das sich in abgewandelter Form wieder auf neue Probleme wird anwenden lassen. Wir haben uns neben einem Wissen, wie die Dinge beschaffen und wie sie zu handhaben sind, auch ein Wissen erworben, wie man damit umgeht.

Rechnen wir noch die vielen zutreffenden oder irrigen Schlussfolgerungen hinzu, die wir aus Erfolgen und Misserfolgen auf unserem Lebensweg ziehen, dann können wir unseren Alltag, ja eigentlich unsere gesamte Lebenstätigkeit als einen fortwährenden Lernprozess verstehen. Unter dieser Perspektive erscheint Lernen als eine normale und selbstverständliche Tätigkeit, die unser Leben längst begleitet, ehe wir sie in organisierter Form in schulischen Einrichtungen kennen lernen, und ohne die wir gar nicht fähig wären, unser Leben zu meistern. Und in diesem Sinne stellt Bildung einen lebenslangen Prozess dar, der nicht mit dem Schulbesuch oder einem Studium abgeschlossen ist.

Wozu brauchen wir Lehranstalten?

Wenn nun aber jeder Mensch in seiner alltäglichen Umgebung zu lernen fähig ist, wozu brauchen wir dann eigentlich spezialisierte Lehranstalten in Form von Schulen, Universitäten, Volkshochschulen oder eben auch Kindergärten? Es lohnt sich für diese Frage einen kurzen Rückblick auf die Geschichte dieser Einrichtungen zu werfen.

Die Schule, wie wir sie kennen, entstand nicht zufällig im 18. Jh. mit der Herausbildung einer auf Kapital fußenden industriellen Produktionsweise und der modernen bürgerlichen Gesellschaft. Noch die Menschen in den vorbürgerlichen Gesellschaften der europäischen Neuzeit eigneten sich, von den wenigen Schriftgelehrten abgesehen, handwerkliche Fertigkeiten über eine Lehre an, in der vor allem über das Nachahmen gelernt wurde. Alles, was sie darüber hinaus für ihren sozialen Umgang und ihre Arbeit brauchten, lernten sie über Beobachtung, Übung und Gespräch. Dieses sich lebenslang erweiternde Wissen reichte offenbar aus, ihr Leben zu bestehen.

Das änderte sich mit dem Aufkommen der bürgerlichen Gesellschaft und der industriellen Produktion. Während sich frühere Gesellschaften am Maßstab eines Menschenlebens gemessen nur wenig veränderten, setzten die neuen Produktionsweisen eine sich ständig beschleunigende Dynamik frei, und führten dazu, dass sich nicht nur die technischen Verfahren und damit die Berufsanforderungen immer rascher umwälzten, auch die gesellschaftlichen Lebensverhältnisse begannen sich in jeder Generation von Grund auf zu ändern. Das hatte zur Folge, dass das Erfahrungswissen, das etwa ein Jugendlicher von seinem Meister hätte übernehmen können, Jahre später schon wieder so überholt gewesen wäre, dass er damit kaum noch zurecht gekommen wäre. (Wir erleben das in den letzten Jahren an der Entwertung jahrzehntelanger Berufserfahrung im Rahmen der Computerisierung.) Die Lösung: Statt konkretes Handlungswissen und spezielle Fertigkeiten zu vermitteln, wird grundlegendes "abstraktes" Wissen gelehrt, das sich auf ständig verändernde Situationen anwenden lässt. Ein Beispiel: Die Naturkräfte, die eine Dampfmaschine in Bewegung setzen, sind prinzipiell die gleichen, die auch den Ottomotor antreiben. Ähnliche abstrakte Grundsätze liegen den Regelungen zugrunde, die die gesellschaftliche Organisation sichern (juristische Prinzipien und Gesetze) oder der Steuerung des persönlichen Verhaltens (also die moralischen Grundsätze) usw. Sofern diese Grundprinzipien beherrscht werden, bleibt der Einzelne arbeits- und gesellschaftsfähig, auch wenn sich seine konkrete Lebenswelt und die an ihn gestellten Anforderungen laufend ändern.

Abstraktes statt Erfahrungswissen

Dieses prinzipielle Wissen kann aber nicht mehr über Beobachtung und Nachahmung erworben werden. Die leitenden Prinzipien und Gesetzmäßigkeiten zeichnen sich ja gerade dadurch aus, dass sie von den vielen Erscheinungen und Situationen, auf die sie zutreffen, abgeleitet sind. Es sind also von vornherein "abstrakte" Kenntnisse, die deshalb als allgemeingültige sprachliche Aussagen oder als naturwissenschaftliche Gesetzmäßigkeiten unterrichtet werden müssen.

Zugleich darf der Wissenserwerb nicht mehr den Zufällen überlassen bleiben, aus denen sich "natürliches" Lernen speist. Deshalb entsteht die moderne Schule als Ort systematischen Lernens. Aller Schulunterricht muss verbal und abstrakt vorgehen, zielt er doch immer auf die allmähliche Ausbildung eines abstrahierenden Denkens. Die wachsende Bedeutung dieser Form der Wissensvermittlung und der schriftsprachlichen Information in allen Bereichen der Gesellschaft führte zur allgemeinen Schulpflicht und damit zur Unterrichtung aller Schichten der Bevölkerung.

Zur Geschichte des Lernens im Kindergarten

Nun ist ein Kindergarten keine Schule, und wurde ja gerade in Deutschland traditionell eher als ein Ort betrachtet, an dem Kinder beaufsichtigt und versorgt, auch wohl zu einem anständigen Betragen erzogen und zu kindgemäßen Beschäftigungen angehalten, aber nicht unterrichtet werden sollten. Diese Vorstellung vom Kindergarten, der die Kinder noch von allen gesellschaftlichen Anforderungen frei hält, ist aber selbst das Produkt einer historischen Epoche. Schon ein kurzer Blick auf die Entstehung des Kindergartens als Einrichtung zeigt, dass dort von Anfang an auch gelernt werden sollte.

Frühförderung oder Wohlfahrt?

Die Kindergärten wurden bekanntlich von Friedrich Fröbel "erfunden". Fröbel ging von der Überlegung aus, dass Mütter – und damit meinte er vor allem die Mütter bürgerlicher Familien – nicht mehr in der Lage seien, ihren Kindern die Grundkenntnisse zu vermitteln, die ihm für deren Bildung notwendig erschienen. Zunächst dachte er allerdings nicht an eigene Einrichtungen, sondern entwickelte die sogenannten "Spielgaben", an denen Kinder spielend abstrakte Grundformen der Natur wie Kreis, Kugel, Dreieck usw. wahrnehmen sollten. Geschulte Kräfte sollten den Müttern nahe bringen, wie sie mit diesem "didaktischen Material" zum Nutzen der Kinder umzugehen hätten. Als sich diese Konzeption als undurchführbar erwies, gründete Fröbel den ersten "Kindergarten", der von Anfang an auf eine kindgemäße Unterrichtung angelegt war. Zum Konzept gehörte neben den Spielgaben ein Gartengelände, in dem jedes Kind ein Beet versorgte, um Pflege und Wachsen von Nahrungspflanzen kennenzulernen und ein Gefühl für die Natur auszubilden. Danach heißen Einrichtungen der Vorschulerziehung bis heute "Kindergärten".

Friedrich Fröbel zur Bildung im Kindergarten

An die Bildung des Kindes und Menschen in der Haus-, Familien- und Kinderstube schließt sich nun die des Kindergartens als die zweite Hauptstufe des Kindheitslebens, wenn man die Säuglings- und Kinderstubenstufe als erste Hauptaufgabe des Kindheitslebens betrachtet. (...) Indem das Kind in den Kindergarten tritt, tritt es zuerst in Verhältnis zu einer Mehrheit von Lebensgenossen und diesen einmal als einzelnes einer Vielheit gegenüber; zugleich wird es aber auch Glied dieses Ganzen, und wie es so von dem Ganzen Gewinn und Vorteil hat, so hat es aber auch gegen dieses Ganze Verpflichtungen. Und darin liegt das menschlich Bildende des Kindergartens, was sich die Kindergärtnerin recht klar zum Bewusstsein zu bringen hat, um das Kind selbst recht sorgsam in dieses neue Verhältnis einzuführen und solches für dasselbe recht fruchtbar zu machen.

Zweitens aber tritt das Kind, wenn es in den Kindergarten kommt, zu einer Mehrheit von Gegenständen, Sachen, Dingen, die es zum vergleichbaren Anschauen, somit zum vergleichenden Nachdenken, zur Ausbildung des Verstandes und so durch ihr Erscheinen und ihre Verhältnisse unbeachtet und ungeahnet zu manigfachen Erkenntnissen führen.

In dem Garten handelt es sich bloß um das Anschauen – Auffassen – um das Tun, das richtige Bezeichnen durchs Wort – wie um das richtige Bezeichnen des durch das Tun Hervorgebrachten, doch nicht um die von dem Gegenstande gleichsam losgerissene Erkenntnis und Kenntnis (Reble 1965, S. 115).

Allerdings hatten wohltätige Bürger längst vor Fröbel Einrichtungen zur Betreuung von Arbeiterkindern gegründet, die von etwas Katechismus abgesehen ausschließlich auf die Versorgung der Kinder ausgerichtet waren. Die Mütter dieser Kinder arbeiteten in Fabriken und konnten sich deshalb nicht um ihre Kinder kümmern, die auf der Straße saßen und zu verwahrlosen drohten. Diese sogenannten "Kleinkindschulen" waren also karitative Einrichtungen.

Wie in andern Ländern war es auch in Deutschland umstritten, ob man Einrichtungen für das Vorschulalter als Teil der öffentlichen Wohlfahrt oder als eine erste Stufe des Bildungssystems zu betrachten habe, und das hieß in der Konsequenz, ob der Kindergarten auch der frühen Unterrichtung oder nur der Betreuung und Erziehung dienen sollte. In Deutschland setzte sich dabei die Konzeption der Wohlfahrtsverbände durch. Alle Einrichtungen unterliegen deshalb bis heute der Aufsicht des Jugendamts und nicht der Bildungsbehörden.

In vielen anderen europäischen Ländern wurde und wird die Vorschulerziehung als Grundstufe des Bildungssystems betrachtet (und das war übrigens auch in der verblichenen DDR der Fall). Erst im wiedervereinigten Deutschland wurde den Einrichtungen ein gesetzlicher Bildungsauftrag erteilt und man bezeichnet sie nun als "Elementarbereich" des Bildungswesens, ohne dass sie der Bildungsbehörde unterstellt wären.

Die "Bewahrpädagogik"

Mit dem Verschmelzen von Kindergärten und Kleinkindschulen entwickelte sich in Deutschland um 1900 die Kindergartenerziehung, wie sie bis in die 60er Jahre des 20. Jh.s (zumindest in der Bundesrepublik) vorherrschte und die dann als "Bewahrpädagogik" verworfen wurde. Sie war geprägt von der Entdeckung der Eigenart des Kindes, wie sie von den pädagogischen Strömungen um 1900 vertreten wurde, die die Bewegung "Kind und Kunst" hervorbrachten und das "Jahrhundert des Kindes" ausriefen. Damit sollten die Besonderheiten der Erfahrungswelt von Kindern gewahrt und das Spiel als der Ausdruck dieser Eigenart anerkannt werden, beides Forderungen, die auch heute noch zu unterstützen sind.

Allerdings wurde Kunst als unversöhnlicher Gegenpol zu gesellschaftlicher Arbeit gesehen, vor der die Kinder fernzuhalten seien. Auch die Schule wurde dem "Ernst des Lebens" zugerechnet, vor dem man die Kinder zunächst noch zu bewahren hatte. Die Förderung in den Kindergärten richtete sich nun vorwiegend auf "künstlerische" Betätigungen und auf die Verbundenheit mit der Natur. Die typischen "Beschäftigungen", wie wir sie aus der herkömmlichen Kindergartenpädagogik kennen, Bastelarbeiten und die Berücksichtigung der jahreszeitlichen Rhythmen, gewannen ihren beherrschenden Stellenwert. Alle gesellschaftlichen Zusammenhänge wurden als nicht kindgemäß ausgeklammert, und deshalb sollten Kinder auch noch vor den Leistungsanforderungen geschützt werden, die später die Schule an sie stellen würde.

Im übrigen besuchten nur vergleichsweise wenige Kinder einen Kindergarten, auch wenn die Zahlen in den städtischen Ballungszentren allmählich anstiegen.

"Soziales Lernen" in den Kinderläden

Gegen diese Ausgrenzung der Kinder aus den Lebenszusammenhängen der Erwachsenen richteten sich dann die aus der Studentenbewegung von 1968 hervorgegangenen Kinderläden. Mit der Begründung, die Kinder frühzeitig zu solidarischem und politischem Verhalten zu erziehen und autoritäre Einstellungen zu verhindern, wurde gesellschaftliche Unterdrückung thematisiert und die Kinder wurden auf Demonstrationen mitgenommen. "Soziales Lernen hieß nun das beherrschende Schlagwort, das auch in einem "repressionsfreien" Umgang der Kinder miteinander und mit ihren Betreuern eingeübt werden sollte. Ein weiteres Schlagwort war die "Chancengleichkeit" für Arbeiterkinder, deren Benachteiligung über eine gezielte Förderung sichergestellt werden sollte.

Es ist von heute aus gesehen einfach, den Kinderläden anzukreiden, sie hätten das Verständnis der Kinder überfordert oder sie gar "indoktriniert". So überzogen einzelne Erscheinungen gewesen sein mögen, wurden doch durch die Kinderläden erstmals Leitziele formuliert, die auf frühes Verständnis der gesellschaftlichen Umwelt gerichtet waren und die Förderung von sprachlichen und kognitiven Kompetenzen einschlossen. Ohne diesen Anstoß und die davon ausgelösten kontroversen Diskussionen wäre weder der quantitative Ausbau der siebziger und achtziger Jahre noch die pädagogische Arbeit nach dem "Situationsansatz" denkbar gewesen, der vor allem auf die Handlungsfähigkeit in der Umwelt und auf ein Verständnis der sozialen Lebensbedingungen ausgerichtet ist. Frühkindliches Lernen und eine altersgemäße "Bildung" wurden zu anerkannten Zielen der Vorschulpädagogik.

Die davon ausgelöste Diskussion um eine Reform des Bildungswesens, in der dann auch eine entschiedene Frühförderung im Elementarbereich gefordert wurde, erhielt ihre Brisanz durch den "Sputnikschock", der die "Wettbewerbsfähigkeit" mit den sozialistischen Gesellschaften des Ostens in Frage stellte, ähnlich wie heute die ungenügenden PISA-Ergebnisse die Furcht schüren, dem "globalen Wettbewerb" nicht gewachsen zu sein.

Günter Erning/ Karl Neumann (Hg.): Geschichte des Kindergartens, Band 1 und 2, Freiburg 1987.

Beiträge zur Geschichte des Kindergartens und der institutionellen Früherziehung im 19. und 20. Jh.


11.10.2004