Gebildete Kindheit

Handbuch der Bildungsarbeit im Elementarbereich

Teil 1: Bildung und Lernen

 

1.6 Kindheit einst und Kindheit heute

Die pädagogische Ausrichtung der Kinderläden war in einer Hinsicht merkwürdig zwiespältig: Auf der einen Seite sollten die Kinder unbeeinflusst von den autoritären Verhaltensweisen und Ansichten der Erwachsenen zu sich selber finden, auf der anderen Seite wurde ihnen das von den eigenen Eltern frisch erworbene Weltbild einer vom Klassenkampf geprägten Gesellschaft geradezu aufgedrängt. Übersehen wurde dabei, dass es in beiden Fällen die Erwachsenen waren, die den Kindern Ansichten vermittelten und ihre Spielräume definierten.

Kinder leben mit den Erwachsenen und wachsen in eine erwachsene Gesellschaft hinein, auch ihre Lernchancen und ihre Lernbereitschaft hängen von den Vorstellungen ab, die die Erwachsenen von der "Natur" des Kindes haben. Wie die Erziehenden den Kindern gegenübertreten, was sie ihnen zutrauen und wovor sie sie bewahren wollen, was sie ihnen zur Verfügung stellen und was sie ihnen vorenthalten, wurzelt in dem Bild, das sich Erwachsene von Kindern machen.

Die Zähmung der kleinen Wilden

Erziehen bedeutete im hergebrachten Verständnis Kinder auf die richtigen Wege zu leiten, sie über Lob und Tadel zu den Verhaltens- und Denkweisen zu bringen, die den eigenen Normen und Wertvorstellungen entsprachen. Das wurde vor allem durch die Autorität der Erziehenden erreicht und schloss auch die Vermittlung von Kenntnissen und Fähigkeiten ein, von denen man annahm, dass sie später "im Leben" gebraucht würden.

Das Bild des Kindes, das dieser Haltung zugrunde lag (und für manche Menschen sich noch immer nicht wesentlich geändert hat), sah Kinder als "kleine Wilde", deren noch unkontrollierten Antriebe und überbordenden Ansprüche beschnitten werden mussten, damit sie sich als "zivilisierte Menschen" in die Gesellschaft einpassen konnten. Und dazu gehörte eben auch, dass sie sich einem Unterricht unterzogen, der ihnen alles Nötige beibrachte, um zu einem ordentlichen Mitglied der Gesellschaft zu werden. Die Einschränkungen, die ihnen von den Erwachsenen abverlangt wurden, die Verbote, die ihnen auferlegt wurden, lagen nach Meinung der Erziehenden letzten Endes im eigenen, höher verstandenen Interesse der Kinder. Lernen musste nicht an ihren Erfahrungen und Fragen anknüpfen, hatte erst recht nicht Vergnügen zu machen und Entdeckerfreuden hervorzurufen, sondern die notwendigen Kenntnisse für "das Leben" zu vermitteln. Wenn es nicht anders ging, eben auch unter Zwang.

Diese auf die Zähmung der widerspenstigen Kleinen gerichtete Pädagogik, wie sie das 19. Jh. charakterisierte, war bereits um 1900 teilweise nicht mehr angemessen. Es machte deshalb Sinn, dass man Kinder im Kindergarten unter Hinweis auf die kindliche Eigenart zunächst noch vor den Zwängen zu bewahren suchte, die in der Schule auf sie warteten. Aber auch diese durchaus begrüßenswerte Einstellung hatte einen handfesten Hintergrund: Gesellschaft und Wirtschaft konnten nicht mehr ausschließlich mit Mitarbeitern in Gang gehalten werden, die vor allem gelernt hatten, nach Anweisungen zu funktionieren. In Teilbereichen brauchte man Menschen mit besserer Beweglichkeit, mehr Phantasie und Eigenverantwortung, Eigenschaften, wie sie von der Bewahrpädagogik und einer kinderseligen Kinderkultur gefördert wurden.

Das neue Bild des Kindes

Neuere Konzepte von frühkindlicher Erziehung und Bildung entwerfen ein anderes Bild: Da sollen die Erziehenden Aktivitäten in Gang setzen, die von den Kindern gewünscht werden und die sie mit ihnen besprechen. Sie sollen sie eigene Erfahrungen machen lassen, sie dabei beraten und zugleich einen schützenden Raum herstellen, in dem diese Erfahrungen erfolgreich und gefahrlos zu machen sind. Statt Autorität zu sein, die anweist, sollen sie zu Begleitern und Helfern werden, die selbständiges Lernen ermöglichen. Und alles Lernen soll einen Gewinn im Hier und Heute bringen, und darüber den Wissensdurst und den Forschergeist der Kinder beflügeln. Es ist eine Haltung den Kindern gegenüber, die von den Vertretern der überkommenen Erziehungskonzeption gerne als "Kuschelpädagogik" diffamiert wird.

Man kann nun darauf verweisen, dass eine ganze Reihe wissenschaftlicher Forschungsergebnisse dieses Bild stützen und begründen. Die neuere Säuglingsforschung und die Gehirnforschung werden hier genannt. Man kann sie ergänzen mit Erkenntnissen der Tiefenpsychologie und der Rolle, die dort den subjektiven Verarbeitungen der Lebenserfahrung zugeschrieben werden. Aber auch das bliebe zu vordergründig. Warum, könnte man weiterfragen, hat man erst jetzt den "kompetenten" Säugling entdeckt. Warum wurde ihm bis vor wenigen Jahrzehnten eine Existenz zugeschrieben, die sich auf Nahrungsaufnahme und die Befriedigung damit zusammenhängender oraler Bedürfnisse beschränkte, obwohl es doch jede aufmerksame Mutter offenbar anders wusste und sich anders verhielt?

Weder diese wissenschaftlichen Erkenntnisse noch das neue Bild vom Kind sind unversehens vom Himmel gefallen. Die wissenschaftliche Neugier richtete sich auf die frühe Entwicklung von Kindern, weil sich das Bild des Kindes zu ändern begann. Und das sich wandelnde Bild des Kindes reagiert, wie schon im Anschluss an das Konzept der Selbstbildung betont wurde, auf eine gesellschaftliche Situation, die zunehmend Menschen erfordert, die sich in einer veränderten gesellschaftlichen Situation zurechtzufinden und sich zu behaupten fähig sind.

Die heimliche Selbstbildung von ehedem

Betrachtet man, unter welchen Bedingungen Kinder bis weit ins 20. Jh. aufwuchsen und vergleicht sie mit den gegenwärtigen Lebensverhältnissen von Kindern, dann zeigen sich massive Veränderungen, die vor allem in den letzten drei bis vier Jahrzehnten stattfanden.

Die strenge Erziehung, wie sie für das 19. Jh. bezeichnend war und mit Abwandlungen bis vor kurzem gültig blieb, legte Kinder auf Verhaltensregeln fest, die fraglos zu befolgen waren, sowie auf Wissensbestände, die ohne Widerrede gelernt werden mussten. Erziehungsmaßregeln und Unterrichtung füllten aber nur einen Teil des kindlichen Alltags aus, die übrige Zeit verbrachten Kinder mit selbst gewählten Beschäftigungen und meist zusammen mit andern Kindern. In den Kindergruppen und den freien Beschäftigungen galten andere Regeln und Maßstäbe. Deshalb sprechen Berichte über die Kindheit mit Vorliebe von den Streichen und den Abenteuern, die man im Verein mit Gleichaltrigen durchlebte. Sowohl die Straße vor dem Haus wie das weitere Umfeld des Wohnortes boten ein offenes Gelände voller lockender Erfahrungen außerhalb und neben Erziehung und Unterrichtung. Dort wurden Erfahrungen gemacht, die das Selbstbewusstsein stärkten, wurden Verhaltensweisen durchgespielt, die zu Hause verpönt waren, wurden Phantasien ausgetobt, von denen man nicht sprechen durfte. Diese "Selbstbildung" ergänzte die häusliche und schulische Erziehung, und ermöglichte den Kindern, Qualitäten auszubilden, die sie später zu aktiven, beweglichen und veränderungsfähigen Menschen heranwachsen ließ.

Die verlorenen Freiräume

In der Lebenswelt heutiger Kinder sind diese "Freiräume" fast durchweg weggebrochen. Diese Entwicklung ist ausführlich beschrieben worden und jeder kann sie tagtäglich beobachten. Als Stichworte seien angeführt:

  • Bis in die Schulzeit hinein können sich Kinder außerhalb des Hauses nur in Begleitung von Erwachsenen bewegen. Die Straße gehört dem Verkehr, offenes Gelände ist zumindest im städtischen Lebensraum selten geworden und meist für Kinder auch nicht zugänglich.
  • Die selbständigen und immer weiter wegführenden Erkundungen des lokalen Umfeldes in Gemeinschaft mit andern Kindern sind fast unmöglich geworden. Stattdessen werden Kinder zu ausgewählten Plätzen gefahren, die speziell für ihresgleichen vorgesehen und vorbereitet sind: Spielplätze, Kurse für Kinder, Kulturangebote. Dazu kommen Orte wie die Einkaufszentren, zu denen sie von Erwachsenen mitgenommen werden. Der Lebensraum setzt sich aus vielen isolierten Punkten zusammen. Man spricht deshalb von "verinselter" Kindheit.
  • Zu Hause leben immer mehr Kinder ausschließlich mit Erwachsenen, oft nur mit einem Elternteil und ohne Geschwister. In der Nachbarschaft gibt es meist auch wenig Kinder, und vor allem muß man wieder zu ihnen gebracht werden, um mit ihnen zu spielen. In den einsamen Stunden zu Hause steht die Unterhaltung durch Medien zur Verfügung, die durchaus eine Menge Spaß und Wissen bringen, die aber lebendige Spielpartner nicht ersetzen können.
  • Einen beträchtlichen Teil des Tages verbringen inzwischen so gut wie alle Kinder in den Einrichtungen der Tagesbetreuung, die schon deshalb für die Kinder attraktiv und förderlich ist, weil sie mit andern Kindern zusammen kommen. Und selbst wo die Einrichtungen nicht auf der Höhe der Zeit arbeiten, eher die Betreuung sichern als Bildung fördern, bekommen Kinder dort eine Menge Anregung, lernen sich mit andern Kindern zu arrangieren und können ihrem gemeinsamen Spielbedürfnis nachgehen.

Aber in all diesen Situationen, zu Hause, außerhalb des Hauses wie in den Einrichtungen, stehen die Kinder unter der Aufsicht von Erwachsenen. Würden sie dabei ständig mit der Einstellung konfrontiert, die mit der klassischen Erziehung verbunden war, würden sie rund um die Uhr eingeschränkt, gemaßregelt, behindert und zu Beschäftigungen gedrängt, die nicht ihre eigenen sind. Das Ergebnis wären verschüchterte und ängstliche Wesen, die bei jedem Schritt nach der Erlaubnis der Erwachsenen fragen würden und die unfähig wären, ihre eigenen Wege zu gehen, ihre Ideen zu verfolgen und ihre Welt zu erforschen. Das ziemlich genaue Gegenteil dessen, was unsere Gesellschaft für ihre "Zukunftsfähigkeit" braucht.

Die Forderung an die Fachkräfte in den Einrichtungen, Kinder partnerschaftlich zu begleiten, ihre Initiativen aufzunehmen, ihnen helfend zur Seite zu stehen und damit ihre Selbstbildung zu ermöglichen, ist kein Luxus. Sie ist eher zu einer Lebensfrage unserer Gesellschaft geworden.


11.10.2004