Gebildete Kindheit

Handbuch der Bildungsarbeit im Elementarbereich

Teil 1: Bildung und Lernen

 

1.2 Was unter Lernen zu verstehen ist

Was beim Lernen vor sich geht, beschäftigt das wissenschaftliche Nachdenken schon lange. Denn von der Beantwortung dieser Frage erhoffte man sich (und erhofft sich nach wie vor), Methoden abzuleiten, die Lernen leichter und effektiver machen.

1.2.1 Informationsverarbeitung

Schlägt man in älteren psychologischen Handbüchern unter dem Stichwort "Lernen" nach, wird man fast ausschließlich über Verhaltensexperimente belehrt, nach denen Lerninhalte über positive "Verstärkung" verankert werden. Das sogenannte "Konditionieren" bildete die Grundlage einer Lerntheorie, die daraus Rückschlüsse auf die Methoden schulischer Unterrichtung zu ziehen suchte und bis heute den Schulunterricht beeinflusst.

Verstärkungslernen

Diese Lerntheorie geht wie die gesamte Verhaltenspsychologie davon aus, dass das, was im Menschen vorgeht, dem wissenschaftlichen Erkennen prinzipiell nicht zugänglich ist. Das Innere des Menschen, seine Gedanken und Gefühle werden als "black box" aus der Betrachtung ausgeschlossen, und nur beobachtet, was einerseits eingegeben wird, andererseits an Verhalten daraus resultiert. Indem der Lehrstoff mit einem positiven Reiz "verstärkt" wird, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass der gewünschte "Output" erreicht wird, der Schüler sich das vorgegebene Wissen einverleibt und wiedergeben kann. Auf diesem "Verstärkungslernen" baut eine Didaktik auf, die man salopp als Bonbon-Methode bezeichnen könnte: Ich biete dir eine Belohnung, wenn du dir einprägst, was ich dir vorsage. Die Belohnung (oder eben Bestrafung) erteilt der klassische Schulunterricht in Form von Noten.

Der Blick in den Schwarzen Kasten

Diese Beschreibung des Lernens lenkt die Neugier gerade auf das, was sie auslässt. Was geht während des Lernens im Lernenden vor? Oder kann man nicht doch in die Black Box hineinblicken?

Die Theorie der Informationsverarbeitung sucht von den beobachtbaren Verhaltensweisen auf die inneren Vorgänge zu schließen, die beim Lernen stattfinden. Denn wie wir uns Botschaften merken und sie wieder erinnern, können wir bis zu einem gewissen Grad an uns selbst wahrnehmen, auch können Beobachtungen von anderen Menschen erfragt und ausgewertet werden. Dabei lässt sich untersuchen, welche typischen Fehlleistungen unterlaufen, und daraus kann wiederum auf die Arbeitsweise unseres Gedächtnisses zurückgeschlossen werden. Die Auswertung dieser Aussagen und Beobachtungen erlaubte ein Modell zu konstruieren, nach dem eingehende Informationen aufgenommen, dauerhaft behalten und wieder abgerufen werden.

Instanzen der Informationsverarbeitung

Dieses Modell sieht verschiedene nacheinander geschaltete Instanzen vor, die zu durchlaufen sind, um zu einer abrufbaren Speicherung zu führen. Am Beginn der Kette steht die "sensorische Wahrnehmung", also die ständig auf uns einprasselnden sinnlichen Eindrücke, von denen nur ein verschwindend geringer Teil überhaupt bewusst wahrgenommen werden kann. Der weitaus größere Teil wird von einer als "Filter" gedachten Funktion davon ausgeschlossen, ins Bewusstsein zu treten.

Wo Wahrnehmungen als bedeutsam gewertet werden, richtet sich die Aufmerksamkeit auf sie, und die Wahrnehmung wird in das "Ultrakurzzeitgedächtnis" überführt, das in Sekundenschnelle entscheidet, ob sie in das "Kurzzeitgedächtnis" weitergereicht werden soll, dessen Reichweite einige Sekunden bis zu wenigen Minuten umfasst und das auch als "Arbeitsspeicher" bezeichnet wird. Denn um die Information als sicheren Besitz und damit als dauerhaft abrufbaren Lerninhalt zu behalten, muss sie mit vorhandenen Informationen abgeglichen und mit ihnen verknüpft werden.

Dazu werden vergleichbare Inhalte aus dem "Langzeitgedächtnis" aufgerufen und kurzzeitig in den Arbeitsspeicher überführt. Erst dadurch werden sie uns wieder bewusst. Um nun auf Dauer zur Verfügung zu stehen, muss die neu eingegangene und als speicherungswürdig erachtete Information nach allgemeiner Auffassung "kodiert" werden, also etwa das erhalten, was in einer Bibliothek die Signatur eines Buches darstellt. Die Kodierung wird im allgemeinen als eine Verbindung mit sprachlichen Konzepten verstanden, unter denen die Information "abgelegt" werden kann. Die neue Information ist zu den Informationen, die sich schon in unserem Langzeitspeicher vorfinden, in Beziehung zu setzen und mit ihnen zu verbinden. Sie kann dann an der richtigen Stelle, nämlich in der Verknüpfung mit schon vorhandenen Informationen in das Langzeitgedächtnis zurückgebracht, und damit unserer Aufmerksamkeit wieder entzogen werden. Sie steht nun im Prinzip jederzeit zur Verfügung, kann nach Bedarf aufgerufen und mit neuen Inhalten verknüpft werden. Sie ist in eine feste Struktur integriert, sie ist also "gelernt".

Ein Modell kognitiven Lernens

Aus dieser Beschreibung der Tätigkeit, die wir Lernen nennen, ergeben sich folgende Schlussfolgerungen:

  • Lernen heißt Informationen, die über die verschiedenen Sinneskanäle eingehen, bewusst wahrzunehmen und zu speichern, indem sie in eine dauerhafte erinnerbare Form überführt werden.
  • Neue Informationen werden dabei mit den bereits bekannten verbunden und in übergeordnete Zusammenhänge eingefügt. Diese Zusammenhänge setzen sich zu umfassenden Ketten oder Netzen zusammen, die das darstellen, was wir "Wissen" nennen.
  • Die Kodierung und Vernetzung erfolgt über sprachliche Konzepte. Diese Form des Lernens setzt deshalb die Sprachfähigkeit voraus. Die langfristige Speicherung und damit ein dauerhaftes Lernen ist von der Sprachbeherrschung abhängig.

Diese im Modell vorausgesetzte Ausrichtung auf Sprache und Bewusstsein deutet darauf hin, dass mit diesem Modell nur jene Lernvorgänge beschrieben werden können, die dem kognitiven Lernen und dem logischen Denken zugerechnet werden. Sie machen aber nur einen, wenn auch einen sehr wichtigen, Bereich menschlicher Lernfähigkeit aus.

1.2.2 Drei Weisen des Erkennens

Daneben gibt es offenbar Formen des Lernens, die nicht von der Sprachfähigkeit abhängen, da sie in der kindlichen Entwicklung bereits vor dem Spracherwerb auftreten.

Formen vorsprachlichen Lernens

Die Beobachtung lehrt, dass schon Säuglinge Erinnerungen haben. Denn ganz offenbar sind sie in der Lage, Erwartungen über regelmäßige Handlungsabläufe auszubilden, sie können sich an wiederholte Aktivitäten erinnern und sie voraussehen. Wenn etwa die Mutter Wasser in seine Badewanne einlässt, weiß das Kind, dass jetzt die üblichen Baderituale ablaufen werden. Zugleich lernen Babys Handlungen, die zunächst zufällig oder unsicher zustande gekommen sind, mit der Wiederholung immer sicherer und zielgerichteter auszuführen. Sie müssen also über eine Art körperlichen Lernvermögens verfügen, das als "sensomotorisches Lernen" bezeichnet wird.

Und längst vor den ersten Sprachäußerungen sind Spielhandlungen zu beobachten, die dann vom zweiten Lebensjahr an zur bevorzugten Beschäftigung des Kindes werden. Alles Spielen aber setzt eine innere Vorstellung voraus, die über die symbolische Aktivität des Spiels "realisiert" wird. Wiederum muss das Kind demnach schon vor dem Spracherwerb ein Bildgedächtnis besitzen, da es offenbar fähig ist, seine Vorstellungen spielend über stellvertretende Handlungen darzustellen.

Es steht außer Frage, dass mit beiden Verfahren gelernt wird, das heißt, dass Vergleiche gezogen, Zusammenhänge hergestellt und darüber neue Verhaltensweisen ausgebildet werden. Es ist das große Verdienst Jean Piagets, dass er diese Formen intelligenten Verhaltens entdeckte und ihr Auftreten in der Kindheit zu beschreiben versuchte. Er hat sie allerdings vor allem als Vorstufen des sprachlich-abstrakten Denkens aufgefasst, das sich über die sprachliche Erfassung der Umwelt ausbildet, und deshalb die Bedeutung, die sie auch später für unsere Lebenstätigkeit behalten, unterschätzt.

Dreifache Repräsentation

Denn auch für den Erwachsenen, der imstande ist, "formal-logisch" zu denken, ist das sprachlich operierende Denken nicht die ausschließliche Weise, in der Wahrnehmungen verarbeitet und Problemlösungen gefunden werden. Der amerikanische Psychologe Jerome Bruner geht von drei gleichzeitig und nebeneinander arbeitenden Formen der Kognition aus, die er als unterschiedliche "Darstellungsfunktionen" (representations) bezeichnet: der handlungsmäßigen, der bildlichen und der sprachlichen. Sie werden zwar in der frühkindlichen Entwicklung nacheinander erworben, behalten jedoch auch nach dem Erwerb der Sprachfähigkeit ihre Bedeutung und werden jeweils für spezifische Aufgaben verwendet. Das wird an den Situationen deutlich, die über die sprachliche Bezeichnung allein schwer zu erfassen und zu verarbeiten sind.

Jeder kennt das Problem, aus den sperrigen Beschreibungen einer Gebrauchsanweisung die gemeinten Handgriffe herauszulesen. Man beherrscht sie jedoch auf der Stelle, sobald sie vorgemacht werden, und sie können dann sicher und problemlos erinnert und wieder ausgeführt werden. Eine ähnliche Situation ergibt sich, sobald wir nach einer fremden Straße fragen: Die Erklärung, geradeaus bis zur dritten Straßenkreuzung zu gehen, dann halb links und gleich wieder scharf nach rechts, wo wir auf einen Bäckerladen stoßen werden, dann die Einfahrt drei oder vier Häuser weiter zu nehmen haben etc, läßt uns einigermaßen ratlos. Die simple Skizze auf einer Streicholzschachtel dagegen bringt uns sicher und umstandslos ans Ziel. Um die Beispiele zu vervollständigen: Wo wir eine philosophische Erörterung studieren, wird uns weder unser Handlungswissen noch unser Vorstellungsvermögen weiterhelfen. Wir finden uns auf die abstrakte Bedeutung der sprachlichen Formulierungen reduziert.

Das aber sind Sonderfälle. Im Normalfall werden diese Erkenntnisweisen mehr oder weniger gleichzeitig in Aktion treten und sich wechselseitig ergänzen. Denn wie uns die Gehirnforschung zeigt, arbeitet unser Denkorgan prinzipiell über Rückkopplungen, indem Informationen zwischen den verschiedenen Funktionen ausgetauscht und miteinander vernetzt werden.

1.2.3 Aussagen der Gehirnforschung

In den letzten Jahrzehnten gelang es der neurologischen Gehirnforschung tiefer in die Arbeitsweise des menschlichen Denk- und Steuerungsorgans einzudringen. Sie ist inzwischen ist in der Lage, aufgrund von Messwerten und Beobachtungen, die am lebenden Gehirn gemacht werden, auf die Arbeitsweise in den Nervenzellen des Gehirns zu schließen. Sie verspricht daher die Frage, wie Lerninhalte aufgenommen und gespeichert, wie sie wieder abgerufen und damit erinnert werden, über exakte Messungen und Beobachtungen aufzuklären.

Um Lernprozesse auf der Ebene der Gehirntätigkeit zu beschreiben, sind zwei Fragen zu beantworten,

  • "einmal wie Information gelernt und damit gespeichert wird, und
  • zum anderen, wie und wo gespeicherte Informationen auf Gehirnebene abgelegt wird" (Markowitsch 1992, S. 222).

Wie wir wahrnehmen

Die Arbeitsweise unseres Gehirns erwies sich stets als sehr viel komplizierter, als man zunächst annahm. Man hat sich deshalb vor zu raschen Schlussfolgerungen zu hüten, wie sie gegenwärtig häufig in der öffentlichen Diskussion gezogen werden.

Die ersten Forschungen gingen selbstverständlich davon aus, dass das Gehirn wie andere Organe arbeitet, das heißt, dass die Gehirnareale für bestimmte Funktionen zuständig sind. Das legte auch die Entdeckung von "Sprachzentren" nahe. Die Beobachtung jedoch, dass Menschen mit zerstörten Sprachzentren dennoch wieder sprechen lernen können, führte zur Theorie von der "holographischen" Arbeitsweise des Gehirn. Sie besagte, dass in jedem Teilbereich alle Funktionen enthalten seien, wenn auch in geringerer Auflösung. Inzwischen geht man davon aus, dass es für bestimmte Funktionen benennbare Areale gibt, dass andere Bereiche für verschiedene Funktionen genutzt werden können und dass alle diese "Areale" in ständiger wechselseitiger Vernetzung arbeiten.

Beim Wahrnehmen entsprechen den einzelnen Sinnesorganen spezifische Bereiche, die die gelieferten Informationen verarbeiten. "Eindeutig lassen sich Projektionsareale für die verschiedenen Modalitäten wie Sehen und Hören oder die Körperfühlsphäre unterscheiden, ebenso die als motorische Projektionsfelder bezeichneten und recht gut lokalisierbaren Kommandozentralen für die Muskulatur" (Wolf 1996, S. 165). Diese "primären Rindenfelder" sichern die elementaren Funktionen von Wahrnehmung und Bewegung. Auch sie erwiesen sich aber bei genauerer Kenntnis als hoch komplex. So werden etwa Wahrnehmungen der Sinnesorgane nicht einfach an ein dafür zuständiges Gehirnareal weitergegeben, sondern werden mit verschiedenen Schaltstellen rückgekoppelt und abgeglichen.

Die komplexeste Struktur zeigt das Sehen. Hier werden die Impulse, die von der Netzhaut kommen, bereits über zahlreiche Nervenfasern parallel und überkreuz weitergeleitet, durchlaufen auf diesem Weg den sogenannten "Kniehöcker", gelangen dann an das primäre Sehzentrum, das sie wiederum an ein halbes Dutzend nachgeordneter sekundärer und tertiärer Zentren weiter reicht. Dort werden sie mit bereits gespeicherten Eindrücken abgeglichen und erst über die laufende Rückmeldung aller dieser Stellen kommt die Sehwahrnehmung zustande: Sehen ist ein zusammengesetzter Sinn, der über die Vernetzung unterschiedlicher Gehirnbereiche entsteht. Seheindrücke geben also nicht, wie wir das naiv voraussetzen, unmittelbar wieder, was uns in die Augen fällt. Oder vereinfacht ausgedrückt: Wir sehen nicht mit den Augen, sondern mit dem Gehirn.

Aber auch die in einer Sinnesmodalität gemachten Eindrücke werden mit den Wahrnehmungen anderer Sinne abgeglichen und vernetzt.

Der Wahrnehmungsprozeß

Aus der Wahrnehmungsforschung wissen wir ebenfalls, dass unsere Sinne nicht getrennt voneinander funktionieren. Zwar hat jedes Sinnessystem seine eigenen Verarbeitungsnetze. Aber diese Netze stehen miteinander in enger Verbindung. Dabei erfolgt die Verknüpfung bereits auf allen Ebenen des gesamten Verarbeitungsprozesses. Die verschiedenen Wahrnehmungsweisen (Sehen, Hören, Riechen, Tasten usw.) beeinflussen einander bereits während des Wahrnehmungsprozesses. Sinn dieser engen Verbindung scheint zu sein, dass sich Informationen gegenseitig ergänzen können: Wenn ich etwas aus vielen Quellen weiß, weiß ich es besser, als wenn ich es nur aus einer Quelle weiß.

Schließlich sind einzelne Wahrnehmungsweisen nicht nur mit anderen sinnlichen Wahrnehmungssystemen verbunden, sondern ebenfalls mit unseren emotionalen Verarbeitungsweisen. Diese bestimmen über die Auswahl des Wahrgenommenen, den Grad der Aufmerksamkeit oder die Auswahl des Wahrgenommenen und seine subjektive Bedeutung. Isolierte Wahrnehmung gibt es also nicht. Wahrnehmung umfasst ein weit verzweigtes Verarbeitungsnetz, in dem nicht nur die verschiedenen Sinnessysteme zusammengefasst sind, sondern ebenfalls alle weiterverarbeitenden Denkprozesse einschließlich Emotionen und Gedächtnis. Das Wahrnehmen erzeugt also keine Abbilder, sondern ist bereits ein hochkomplexer Denkprozess (Schäfer 2003, S. 28).

Prozedurales und deklaratives Wissen

Die komplizierte Vernetzung, die schon bei der Wahrnehmung zu beobachten ist, prägt nun noch sehr viel deutlicher unsere eigentliche Denktätigkeit. Sie findet vorwiegend in den "Assoziationsfeldern" der sogenannten "sekundären und tertiären" Bereiche statt. Diese Areale sind weniger auf bestimmte Funktionen festgelegt und stehen der Verarbeitung und Verknüpfung sehr verschiedener Inhalte offen. Sie können sich deshalb nahezu unbegrenzt miteinander verbinden und über diese Verbindungen Funktionskreise bilden.

In diesen offeneren Gehirnarealen scheint vor allem jenes Wissen verarbeitet zu werden, das als "deklaratives" Wissen bezeichnet wird, im Gegensatz zum "prozeduralem" Wissen, das mit sensomotorischen Speicherungen arbeitet, also Koppelungen von Sinneseindrücken und motorischen Tätigkeiten. Alltagssprachlicher ausgedrückt handelt es sich beim prozeduralen Wissen um eingeübte Handgriffe und Bewegungsabläufe, z.B. die gelernte Schrittfolge eines Tanzes oder die Handgriffe, um einen Schnürsenkel zu binden. Es sind Vorgänge, die sozusagen automatisch gespeichert und abrufbar sind und die wir deshalb ausführen können, ohne sie uns bewusst machen zu müssen. Diese Weise der Verarbeitung dürfte also weitgehend dem sensomotorischen Lernen entsprechen, bei dem körperliche Abläufe festgehalten werden und abrufbar bleiben.

Anders das deklarative Gedächtnis, das gerade erfordert, dass wir Erfahrungen bewusst aufnehmen und verarbeiten. Wir mögen sie nach der Speicherung wieder aus dem Bewusstsein verlieren, aber mit jedem Akt der Erinnerung müssen sie dem Bewusstsein wieder zugänglich gemacht werden, da anders der Lerninhalt nicht realisiert werden kann. Es wird nach den gespeicherten Inhalten unterteilt in ein Bekanntheitsgedächtnis, mit dem Vertrautes wiedererkannt wird, ein Faktengedächtnis, in dem (sprachliche) Feststellungen niedergelegt sind, und ein episodisches Gedächtnis, das Szenen und Situationen (vermutlich in bildhafter Form) festhält und das auch die Erinnerungen an das eigene Leben enthält.

Alles kognitive Lernen gehört zweifellos zu diesen komplexeren Funktionen unserer Gehirntätigkeit. Statt die Funktionen in klar abgrenzbaren Arealen zu lokalisieren, geht man deshalb "grundsätzlich von einer netzwerkartigen Informationsverarbeitung" (Markowitsch 1994, s13) aus. Was im Modell der Informationsverarbeitung als ein zielgerichteter linearer Vorgang erscheint, erweist sich hier als ein komplexes Zusammenspiel unterschiedlicher Areale und Funktionen.

Aufmerksamkeit

Fertigkeiten wie das Binden der Schnürsenkel oder gewohnheitsmäßige Wahrnehmungen wie das Bild einer Straße, durch die wir schon Hunderte Male gegangen sind und durch die wir uns auch "wie im Schlaf" bewegen könnten, gehören also dem prozeduralen Gedächtnis an. Wir brauchen keinerlei bewusste Aufmerksamkeit, um die Fertigkeit auszuführen oder den Einruck zu registrieren. Sie müssen allerdings mit Aufmerksamkeit bedacht und eingeübt worden sein, um sie wie nebenbei zu beherrschen. Das Binden der Schnürsenkel macht Kindern zunächst große Mühe und muss mit großer Konzentration geübt werden, ehe es wie von selbst geht. Beim ersten Gehen durch unsere Straße blickten wir uns aufmerksam um und suchten viele Einzelheiten zu registrieren, über die wir später bei "habituierter" Wahrnehmung achtlos weggehen. Auch alles "prozedurale" Lernen beginnt mit erhöhter Aufmerksamkeit und bewusster Wachheit. Erst wenn die Eindrücke oder der Bewegungsablauf fest registriert und gespeichert sind, können sie ohne bewusste Steuerung wahrgenommen oder ausgeführt werden. Am Beginn des Lernens steht deshalb immer die bewusste Ausrichtung der Aufmerksamkeit, die ermöglicht, die Wahrnehmungen zu registrieren und sie mit gespeicherten Inhalten zu verbinden. Voraussetzung allen Lernens ist eine erhöhte Aufmerksamkeit, die man sich wie einen Scheinwerfer vorstellen kann, der sich sowohl auf unsere Umgebung wie auf die bereits gespeicherten Gedächtnisinhalte richtet.

Beim "expliziten" deklarativen Gedächtnis muss auch das Abrufen mit Bewusstsein verbunden werden. Bewusstsein ist eine sprachliche Leistung und setzt Sprachbeherrschung voraus. (Deshalb können wir uns bewusst nicht vor das dritte Lebensjahr zurückerinnern). Das bewusste Aufmerksamwerden ermöglicht, Handlungen und Wahrnehmungen mit sprachlich gesteuertem Denken zu verbinden. Lernen kann deshalb unterstützt werden, indem Handlungen, die Kinder intuitiv oder gewohnheitsmäßig ausführen, sprachlich kommentiert und damit der bewussten Aufmerksamkeit zugänglich werden.

Was Aufmerksamkeit bedeutet

Das Ausmaß des Behaltens von dargebotenem Material ist abhängig davon, wie sehr wir uns diesem Material zuwenden, d.h. von Aufmerksamkeitsprozessen. Je aufmerksamer ein Mensch ist, desto besser wird er bestimmte Inhalte behalten. Der Grund ist aus neurobiologischer Sicht ein zweifacher, denn mit Aufmerksamkeit sind zwei Prozesse gemeint, erstens die allgemeine Wachheit oder Vigilanz und zweitens die selektive Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Ort, Aspekt oder Gegenstand der Wahrnehmung. Während die Vigilanz die Aktivierung des Gehirns überhaupt betrifft, bewirkt die selektive Aufmerksamkeit eine Zunahme der Aktivierung genau derjenigen Gehirnareale, welche die jeweils aufmerksam und damit bevorzugt behandelte Information verarbeiten (Spitzer 2002, S. 155).

Die Arbeitsweise des Gedächtnisses

Was im Modell der Informationsspeicherung als Überführung vom Arbeits- ins Langzeitgedächtnis beschrieben wird, hat die Gehirnforschung allerdings bislang nicht befriedigend aufklären können. Es wird aufgrund von Beobachtungen davon ausgegangen, dass die Inhalte über einen Zeitraum von etwa 24 Stunden hinweg bearbeitet werden, ehe sie einer als "Altgedächtnis" beschriebenen Speicherung zugeführt werden. Daraus wird der Schluss gezogen, dass frisch Gelerntes, das dauerhaft behalten werden soll, innerhalb dieser Zeit zu wiederholen und damit für das Gedächtnis zu sichern sei.

Die Bearbeitung erfolgt wieder über die Rückmeldung unterschiedlicher Bereiche. "Wir wissen in groben Umrissen, welche Gehirnsysteme für die verschiedenen Formen des Gedächtnisses wichtig sind und wie sie miteinander in Wechselwirkung treten" (Squire/Kandel 1999, S. 230). Es kann aber bislang nicht eindeutig ausgesagt werden, in welchen Arealen und in welcher Weise die gespeicherten Informationen dann auf Dauer festgehalten werden.

Nehmen wir zum Beispiel persönliche Erinnerungen. Für Erlebnisinhalte kann wohl ein Gehirnareal als der Ort der Verarbeitung genannt werden: "Für die Langzeit-Speicherung episodischer, an einen speziellen autobiographischen Kontext gebundener Inhalte ist die funktionelle Integrität des Hippokampus erforderlich" (Daum/Schugens 2002, S. 421). Dieses entfernt einem Seepferdchen ähnelnde Organ ist Teil des Mittelhirns und gehört damit dem subkortikalen Bereich an. Erlebnisinhalte scheinen nur über dieses Organ aktivierbar zu sein, was aber nicht bedeutet, dass sie dort auch gespeichert würden.

Es wird vielmehr davon ausgegangen, diese Gedächtnisinhalte seien in "kortikalen Repräsentationen" verfügbar, bislang kann aber nur der Pfad nachgezeichnet werden, über den das Gehirn die gespeicherten Informationen verarbeitet und abruft. "Der Hippokampus verknüpft die zu speichernde Information über einen Wahrnehmungsinhalt mit raumzeitlicher Kontextinformation. Bei Abruf werden alle Teilkomponenten simultan aktiviert". Wir erfahren also nicht, in welcher Form Informationen kodiert, ob und wo sie niedergelegt werden und wie das materielle Substrat der Speicherung aussieht. Zwar wird davon ausgegangen, dass diese Informationen "einer graduellen Umorganisation" unterliegen, aber darüber, wie die Erinnerungsinhalte sich dabei verändern würden, "liegen keine gesicherten Erkenntnisse vor" (Daum/Schugens 2002, S. 419).

Es wird vermutet, dass die Inhalte in jenen Bereichen niedergelegt werden, in denen auch die Wahrnehmung verarbeitet wird. "Dieser Hypothese zufolge wird beispielsweise Information über die räumliche Position von Objekten in jenen corticalen Arealen gespeichert, die auch während der Wahrnehmung an der Verarbeitung räumlicher Information beteiligt sind, während Information über die Farbe oder die Identität von Objekten in jeweils anderen, für die Verarbeitung von Farb- und Objektinformation zuständigen corticalen Arealen gespeichert wird" (Roth 1996, S. 389).

Die "Selbstbelohnung" des Gehirns

Eine weitere Entdeckung der Gehirnforschung wird inzwischen immer wieder angeführt, wenn es um das Lernen geht: Die sogenannte "Selbstbelohnung" des Gehirns.

Sie bezieht sich auf die Ausschüttung des Neurotransmitters Dopamin. Dieses Hormon reguliert unter anderem auch die Ausführung flüssiger Bewegungen. (Sein Fehlen führt zur Parkinsonschen Krankheit). Es scheint auch als Signal zu dienen, das zur Ausschüttung körpereigener "Opioide" führt, das heißt von Stoffen, die ähnliche Glücksgefühle erzeugen wie der Gebrauch des Opium als Droge. Es wird angenommen, dass dieses Signal nur dann ausgelöst wird, wenn Ereignisse oder Verhalten zu einem Ergebnis führen, das besser als erwartet ausfällt. Erfolgreiches Lernen, so wird gefolgert, belohnt sich sozusagen selbst. Das Wohlgefühl führt wiederum dazu, dass die Resultate, die das Dopaminsignal auslösen, mit höherer Wahrscheinlichkeit gespeichert werden.

Wie bei anderen Gefühlsregungen, die mit der Ausschüttung von Hormonen verbunden sind, stellt sich allerdings auch hier die Frage nach Henne und Ei: Wird das Gefühl von den Hormonen ausgelöst oder lösen Gefühlsregungen erst die Hormonausschüttung an? Oder auf die Frage der Lernmotivation bezogen: Wird das Dopamin auch ausgeschüttet, wenn der Lerner vorweg keine intensive Motivation an dem Lernergebnis hat? Eine Frage, die sich wohl kaum beantworten läßt, da es sich vermutlich um sich gegenseitig bedingende Wechselwirkungen handelt.

Ähnlich wie andere Resultate der Gehirnforschung legt allerdings auch das Konzept einer "Selbstbelohnung" des Gehirns ein verändertes Verständnis des Lernens nahe und führt, will man sie ernst nehmen, in der Konsequenz zu anderen Formen des Lehrens.

Positives Lernen

Das Dopaminsystem ist an Bestrafung nicht beteiligt, es ist allein für Belohnung zuständig.

Für das Lernen ist wichtig: Gelernt wird immer dann, wenn positive Erfahrungen gemacht werden. Dieser Mechanismus ist wesentlich für das Lernen der verschiedensten Dinge, wobei klar sein muss, dass für den Menschen die positive Erfahrung schlechthin in positiven Sozialkontakten besteht. (...) Menschliches Lernen vollzieht sich immer schon in der Gemeinschaft, und gemeinschaftliche Aktivitäten bzw. gemeinschaftliches Handeln ist wahrscheinlich der bedeutsamste "Verstärker" (Spitzer 2002, S. 181).

Was aus der Hirnforschung für das Lernen hervorgeht

Auch wenn die Gehirnforschung die Komplexität menschlichen Denkens sicher in vielen Bereichen noch unvollständig zu erfassen vermag, können aus ihren Beobachtungen doch einige grundsätzliche Feststellungen getroffen werden, die die hergebrachte Vorstellung vom Lernen von Grund auf verändern:

  • Lernen beschränkt sich nicht auf das Aufnehmen vorgegebener Informationen. Gelernt wird, indem die eingehende Information mit den vorhandenen Informationen abgeglichen, nach den vorhandenen Deutungsmustern eingeordnet und daraus eine neue Struktur gebildet wird. Lernen gleicht eher einem aktiven und selbständigen Konstruieren neuer Inhalte und Vorstellungen. Das bedeutet, dass der Nürnberger Trichter die unzutreffendste Version des Lernens liefert.
  • Alle eingehenden Informationen werden in Rückkopplung mit anderen Gehirnarealen und Funktionen bearbeitet. Das Gehirn arbeitet prinzipiell vernetzt. Geschicklichkeit und Intelligenz scheinen vom Grad dieser Vernetzung abzuhängen.
  • Eine vielfältige Sinneswahrnehmung, die den gleichen Gegenstand auf unterschiedlichen Wahrnehmungskanälen und zugleich über erprobendes Handeln erfaßt, daher vielfältige Informationen an das Gehirn liefert, dürfte diese vernetzte Arbeitsweise am stärksten anregen und daher einen höheren Lerneffekt haben. Je differenzierter und komplexer die Informationen ausfallen, die das Gehirn erreichen, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich in angemessenen Strukturen darstellen.
  • Vernetzung und Rückkopplung erfolgen auch zwischen subkortikalen und kortikalen Bereichen. Auch Inhalte, die scheinbar nur das abstrakte Denken beanspruchen, werden mit Arealen abgeglichen, die für Emotionen zuständig sind. Alles Lernen scheint demnach eng mit emotionalen Strebungen und der Motivation des Lernenden in Verbindung zu stehen. Das heißt, dass selbst "Prozesse wie ,Erkennen' und ,Entscheiden' nicht den ,höchsten' kognitiven Zentren (was immer diese sind) vorbehalten sind, sondern auf allen Ebenen des Gehirns stattfinden" (Markowitsch 1992, S. 237).
  • Schließlich die Feststellung, dass nichts die Lernbereitschaft so sehr fördert wie der Erfolg und insbesondere die Anerkennung durch die Mitmenschen, dass dagegen Angst und Bestrafung die Motivation und damit den Lernerfolg behindern.

Diese Ergebnisse bekräftigen das schon von den Reformpädagogen um 1900 und dann immer wieder bis heute eingeforderte Konzept "ganzheitlichen Lernens", bei dem Sinneswahrnehmung, Gefühl und Denktätigkeit sich gegenseitig verstärken, das aber bislang weder in die gängige Auffassung von Lernen eingegangen ist noch sich in der Arbeit unserer Bildungseinrichtungen allgemein durchsetzen konnte.


11.10.2004