Gebildete Kindheit

Handbuch der Bildungsarbeit im Elementarbereich

Teil 1: Bildung und Lernen

 

1.3 Wie Kinder im Elementarbereich lernen

Ganzheitliches Lernen, das Handeln, Gefühle und Kenntnisse umfaßt, wurde schon um 1900 von den Reformpädagogen für die Unterrichtung von Kindern gefordert. Folgt man der neueren Hirnforschung scheint es Lernprozesse überhaupt zu charakterisieren. Ein von Gefühlen, Motivationen und Handlungsweisen losgelöstes, rein kognitives Aufnehmen von Informationen würde es demnach auch bei Erwachsenen nicht geben.

Dennoch verarbeiten Kinder im Elementarbereich ihre Eindrücke und Erfahrungen ja offenbar anders, als das ihre erwachsenen Betreuer gewohnt sind. Und jeder, der mit Kindern umgeht, weiß, dass er sich auf die Weise ihres Lernens einstellen muss, will er ihnen Lern- und Bildungschancen eröffnen.

Worin unterscheidet sich also die Art, wie sich Kinder in diesem Alter die Welt anzueignen, Schlüsse aus ihren Erfahrungen ziehen und ihr Verhalten danach ausrichten, von der Weise, wie das ältere Schüler oder Erwachsene tun?

1.3.1 Die erstaunliche Lernfähigkeit

In der Diskussion um frühkindliche Bildung wird immer auf die erhöhte Lernfähigkeit dieses Lebensalters hingewiesen und argumentiert, dass diese Jahre für den späteren Lebensweg und für die Ausbildung der intellektuellen Fähigkeiten entscheidend seien, dass es gelte den "Schatz der Kindheit" zu heben, denn mit dem Schuleintritt sei doch "der Rucksack längst gepackt".

Meist werden diese Aussagen mit den sogenannten "Entwicklungsfenstern" begründet, die rechtzeitig zu nutzen seien. Damit ist gemeint, dass es festgelegte Zeiträume gebe, die optimales Lernen ermöglichten, während die entsprechenden Fähigkeiten zu einem späteren Zeitpunkt nur noch mühsam oder überhaupt nicht mehr erworben würden. Deshalb hätten entsprechende Lernangebote während dieser "kritischen Phasen" zu erfolgen, weil später das "Fenster zugeschlagen" sei. Dass wird dann gerne auch mit der Beobachtung der Gehirnforschung untermauert, dass die sogenannte "Synapsendichte" um das dritte Lebensjahr herum höher liegt als in späteren Lebensphasen.

"Synapsendichte"

Als Synapsen werden die Verbindungstellen bezeichnet, über die Nervenzellen Impulse an andere Nervenzellen weiterleiten. "Synapsendichte" meint die errechnete Zahl solcher Verbindungen pro Gewebeeinheit. Eine höhere Anzahl von Verbindungen zwischen den Zellen scheint auf eine höhere Vernetzung und damit auf eine höhere Leistungsfähigkeit hinzuweisen.

Tatsächlich ist beobachtet worden, dass Kinder um das dritte Lebensjahr, nach anderen Angaben zwischen dem dritten und sechsten Lebensjahr, die meisten synaptischen Verbindungen aufweisen und sich deren Zahl bis zur Pubertät etwa auf die Menge reduziert, die für den Zeitpunkt der Geburt berechnet wird. Aus dieser Beobachtung wird dann gefolgert: "Use theme or loose them", was heißen soll, dass der Reichtum an Vernetzung wieder verloren gehe, wenn er nicht stimuliert und genutzt werde. Das mag zunächst überzeugend klingen, bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass von der Anzahl synaptischer Verbindungen nicht auf die intellektuelle Leistungsfähigkeit geschlossen werden kann.

Das gesteigerte Wachstum der Synapsen, das in früher Kindheit zu beobachten ist, scheint eher genetisch gesteuert zu sein und in diesem Zeitraum noch relativ unabhängig von Förderung oder Stimulierung zu verlaufen. Später bilden sich diese Verbindungen wieder zurück, so dass für den jungen Erwachsenen wieder etwa die Anzahl angenommen wird, die wir bei der Geburt mitbrachten. Dass zahlreiche synaptische Verbindungen wieder abgebaut werden, könnte mit der begrenzten Kapazität zu tun zu haben, die funktionstüchtigen Nervenzellen ausreichend zu versorgen. "Die Notwendigkeit, Synapsen aus dem Stoffwechsel zu versorgen, erlegt dieser Dichte möglicherweise biologische Grenzen auf" (Bruer 2000, S. 193). Das Verschwinden nicht gebrauchter synaptischer Verbindungen wird deshalb von manchen Neurologen geradezu als Folge von Lernvorgängen betrachtet.

Synapsendichte und Lernfähigkeit

Wie das Hirn lernt – wie sich das Hirn in Reaktion auf komplexe Umwelten verändert – ist eine überaus bedeutende und schwierige Frage (....). Innerhalb der Neurowissenschaften gibt es die verschiedensten Ansichten darüber, was es mit diesen Mechanismen auf sich hat. Manche glauben – und ich betone, niemand weiß es genau – dass Lernprozesse mit dem Zurückschneiden oder Eliminieren von Synapsen einsetzen, die bereits ausgebildet wurden. Andere glauben, dass das Hirn aus neuen Erfahrungen vor allem durch die Stärkung existierender Synapsen lernt. Wiederum andere (...) gehen davon aus, dass Lernprozesse dann entstehen, wenn neue Synapsen in Reaktion darauf gebildet werden, dass das Hirn Informationen speichern muss (Bruer 2000, S. 189).

Bei Geburt und im frühen Erwachsenenalter sind die synaptischen Dichten annähernd gleich. Dennoch sind Erwachsene hinsichtlich jedes denkbaren Kriteriums intelligenter, haben sehr viel flexiblere Verhaltensmöglichkeiten und zeigen Lern- und Denkfähigkeiten, die wir weder bei Neugeborenen, Kleinkindern noch bei Dreijährigen finden. Darüber hinaus bewirkt der synaptische Verlust in der späten Adoleszenz und im frühen Erwachsenenalter keineswegs einen Niedergang der Hirnleistung (Bruer 2000, S. 113).

Nicht die Anzahl, sondern die Funktionsfähigkeit der einzelnen Verbindungen zwischen den Nervenzellen dürfte über die Leistungsfähigkeit entscheiden, und es deuten einige Beobachtungen darauf hin, dass sich die Arbeitsweise der Synapsen bei Lernvorgängen verändern, dass sie sich verdicken und der Informationsfluß intensiviert wird. "Lernen bedeutet Modifikation synaptischer Übertragungsstärke. Solche Modifikation findet nur an Synapsen statt, die aktiv sind. Je aktiver neuronales Gewebe in einem bestimmten Bereich der Gehirnrinde ist, desto eher findet in ihm Veränderung von Synapsenstärken und damit Lernen statt" (Spitzer 2002, S. 146). Die schiere Anzahl synaptischer Verbindungen dürfte demnach kaum etwas über Lernfähigkeit oder Lernleistung aussagen, entscheidender für Lernvorgänge scheint die ständige qualitative Verbesserung des Netzwerks zu sein.

Das spricht nun keineswegs gegen die Forderung, die Gehirnfunktionen frühzeitig und angemessen zu stimulieren, im Gegenteil: Unter diesem Aspekt ist es entscheidend, dass die für die Entwicklung wichtigen Funktionen benutzt und darüber in ihrer Leistungsfähigkeit gesteigert werden. Denn das Wachstum von Nervenzellen und ihre Vernetzung steht offenbar in einem direkten Wechselverhältnis zu ihrer Nutzung. Auch die Frage nach besonderen Entwicklungsfenstern, in denen Kinder Fähigkeiten erwerben müssen, die später schwer nachzuholen sind, ist damit noch nicht beantwortet.

1.3.2 Die Bedeutung der frühkindlichen Bindung

Tatsächlich scheint es eine Reihe von Entwicklungen zu geben, die in bestimmten Zeitgrenzen am leichtesten in Gang gesetzt und optimal durchlaufen werden. Insgesamt sind allerdings nur wenige Bereiche gefunden worden, für die sich kritische Phasen benennen lassen und sie teilen offenbar ein gemeinsames Merkmal: Es sind "universelle", nicht soziale und kulturelle Fähigkeiten. "Es handelt sich bei allen um elementare Eigenschaften, die für das Überleben und seine erfolgreiche Fortpflanzung notwendig sind – Erkennen der Mutter, Paarung, Sehen, Sprache und sozialemotionale Entwicklung in einer so hoch sozialen Spezies wie die des Menschen" (Bruer 2000, S. 137).

Die Zeitfenster verlaufen aber wohl nicht in so starren Grenzen, wie das gerne dargestellt wird. Das zeigen die Vorgänge, die zur wechselseitigen emotionalen Bindung von Kindern und ihren Betreuern führen, und die einen entscheidenden Einfluss auf die gesamte Entwicklung haben. Wir wissen, dass der erste Blick des Neugeborenen die sicherste und verlässlichste Bindung zwischen Mutter und Kind begründet. Aber auch dort, wo er durch die Umstände der Geburt verhindert wird, kann das verlässliche Band in den folgenden Tagen und Wochen geknüpft werden, wird dann aber längere Zeit in Anspruch nehmen. Auf diesen frühen emotionalen Beziehungen baut alle menschliche Vergesellschaftung auf, alle späteren Formen sozialer Beziehungen werden von diesen ersten Erfahrungen beeinflusst. Ungenügende oder stark gestörte Bindungen in diesem frühen Lebensalter stellen eine schwere Belastung dar und können nur noch bedingt durch spätere Erfahrungen aufgeholt werden.

Aber selbst hier zeigt sich die menschliche Natur als sehr plastisch, denn offensichtlich ist es in gewissem Ausmaß möglich, diese Mängel durch therapeutische Maßnahmen noch nachträglich zu lindern oder gar auszugleichen.

Die kritische Phase des Spracherwerbs

Zweifellos lässt sich für den Spracherwerb ein Entwicklungsfenster feststellen. Das ist sicher kein Zufall, denn Sprache wird in und über die Beziehungen zu den Betreuern erworben.

Der Spracherwerb setzt in vielen seiner Stufen Reifungen voraus. Der Gaumen des neugeborenen Kindes ist noch zu flach, um sprachliche Laute zu produzieren, er wölbt sich erst im Laufe der ersten Lebensmonate zu der Form, die artikuliertes Sprechen ermöglicht. Gleichzeitig damit aber muss die Artikulationsfähigkeit durch die vielen Lallmonologe des satten Säuglings so weit ausgebildet sein, dass er die Laute der Muttersprache unterscheiden und nachbilden kann, was etwa ab dem sechsten Monat erfolgt. Erst danach wird er den Zusammenhang von Situationen und Lautfolgen erkennen und die ersten "Protowörter" bilden können.

Andererseits wird es von einem bestimmten Alter an immer schwieriger die Muttersprache vollständig zu erwerben. Wir wissen das aus den Berichten über sogenannte "Wolfskinder". Die absolute Grenze, nach der das Sprachsystem kaum mehr intuitiv erworben werden kann, liegt etwa bei 10 bis 12 Jahren. Kinder, die vor diesem Zeitpunkt aus ihrer Isolation geholt werden, können noch einigermaßen sprechen lernen. Danach werden allenfalls noch Wortbezeichnungen gelernt, das Regelsystem der Grammatik kann kaum mehr angeeignet werden. Aber auch schon nach dem sechsten bis siebten Lebensjahr scheint der Erwerb der Muttersprache mit größeren Schwierigkeiten verbunden zu sein.

Ähnliche Grenzen gelten übrigens auch für die Artikulation : Wer etwa vor dem 12. Lebensjahr in eine fremde Sprachumgebung kommt, lernt relativ akzentfrei zu sprechen, danach bleibt auch bei besten Sprachkenntnissen eine fremdartige Betonung erhalten.

Für alle kritischen Phasen gilt: Die Reifung allein reicht nicht aus, sie schafft nur die Voraussetzung für den optimalen Erwerb. Gelernt werden kann deshalb die Sprache erst, wo sich eine ausreichende Beziehung zu den Betreuern herausgebildet hat und die Betreuer aufgrund ihrer Beziehung das Sprachangebot so gestalten, dass Kinder Sprache erfassen und nachahmen können. Während dieser optimalen Phasen des Spracherwerbs können auch ohne weiteres zwei oder mehr Sprachen neben- oder nacheinander erworben werden, ohne die bewussten Anstrengungen auf sich zu nehmen, die später das Erlernen einer Fremdsprache erfordert. Es lassen sich also einigermaßen solide Beobachtungen dafür anführen, dass Sprache in abgrenzbaren Zeiträumen besser, schneller und vollkommener gelernt wird.

Es ist nach allem, was wir heute sagen können, auf der anderen Seite sehr unwahrscheinlich, dass es für kulturell vermittelte Fähigkeiten wie diejenigen, die Kinder in der Schule erwerben, Entwicklungsfenster gibt, die sich schließen. "Es trifft zu, dass Kinder diese Fähigkeiten – Lesen, Rechnen, Klavierspielen – normalerweise in einem bestimmten Alter erwerben, aber wir sollten diese Art des Lernens nicht mit der Existenz kritischer Phasen für solche Fähigkeiten verwechseln. Was kulturell normal ist, ist nicht biologisch determiniert" (Bruer 2000, S. 151).

Dass etwa Lesen und Schreiben keiner von der Reifung abhängigen Begrenzung unterliegen, zeigt sich schon daran, dass erwachsene Analphabeten ohne weiteres schreiben lernen können, bei guter Motivation sogar wesentlich schneller, als das im regulären Schulunterricht erfolgt.

Frühe Prägung durch Wahrnehmungsmuster

Das spricht natürlich keineswegs gegen die Auffassung, dass frühzeitiges Lernen raschere und dauerhaftere Lernerfolge verspricht. Es ist nur nicht stichhaltig, sie generell mit festen Entwicklungsfenstern zu begründen. Wenn Kinder in vielen Bereichen eine schnellere Auffassung als Erwachsene zeigen, Eindrücke und Erfahrungen genauer im Gedächtnis behalten, bedeutet das vielmehr, dass diese frühen Speicherungen offenbar eine Intensität besitzen, die später nur gelegentlich von ersten Begegnungen und unerwarteten Erlebnissen wieder erreicht werden. In beiden Fällen scheint die Einprägsamkeit dieser Erfahrungen daher zu rühren, dass unsere Wahrnehmungen noch nicht auf vorgeprägte Muster zurückgeführt werden können, dass sie erfordern, ein neues und bislang unbekanntes Muster auszubilden. Es geht dabei also nicht um bestimmte Zeiträume. Eher geht es darum, in welcher Weise sich die Anfänge des Denkens gestalten und in welche Bahnen damit das weitere Denken gelenkt wird.

Aufgrund seiner vernetzten Arbeitsweise versucht das Gehirn eingehende Informationen mit andern Bereichen abzugleichen und dabei nach Mustern zu suchen, die zur Interpretation der neuen Informationen herangezogen werden können. Fehlen die Vorlagen, die eine Einordnung erlauben, müssen überhaupt erst Muster gebildet werden, die dann gespeichert und zur Interpretation später eingehender Informationen dienen. Für viele Eindrücke, die das junge Gehirn verarbeitet, liegen Vorerfahrungen jedoch nicht vor, so dass sie zu grundlegenden Vorgaben führen, die die mentale Verarbeitung später prägen, und die nachträglich zu verändern, beträchtliche Mühe kostet.

Kinder gestalten die eigenen Denkmuster

Wir haben gesehen, dass Prozesse der Wahrnehmung aufgrund ihrer starken Vernetzung und Rückkoppelung mit anderen Gehirnbereichen nicht objektive äußere Zustände wiedergeben, sondern eher den Charakter von Gestaltungen haben. Diese Gestaltungen werden aber weiter verarbeitet, verfestigen sich zu Vorstellungen und prägen die innere geistige Verarbeitung, wirken also auf die Weise der weiteren Verarbeitung von Erfahrungen zurück. "Die hirninternen Modelle, die auf den verschiedenen Integrationsstufen im Wahrnehmungsprozess entworfen werden, sind gewissermaßen nur Zwischenergebnisse. Durch Verbundschaltung der zuständigen Ressorts interagieren diese Abbilder, assoziieren, wie wir gesagt haben, aktuell einlaufende Meldungen mit gespeicherten Informationen und erlangen dabei zunehmend ein Eigendasein. Geistige Objekte entstehen, Wahrnehmungsgestalten, die sich von der Konkretheit des momentgebundenen Sinneseindrucks lösen und den Charakter von Vorstellungen entwickeln" (Wolf 1996, S. 225).

In den Jahren, in denen Kinder den Kindergarten besuchen, bilden sich diese Vorstellungen vor allem im symbolischen Spiel aus, dessen Ausgangspunkt sinnliche Wahrnehmungen darstellen, die auf andere Vorstellungsinhalte bezogen, sozusagen übereinander kopiert werden. Über die Vorstellungsfähigkeit entwickeln sich abgelöstere Denkmuster, die später als Kategorien die kognitive Verarbeitung der Erfahrung bestimmen. Es besteht also Grund zur Vermutung, dass dort, wo diese grundlegenden Muster nicht genügend ausgearbeitet werden konnten, wo den Kindern stattdessen vorgegebene Muster aufgedrängt werden, sich verkürzte Modelle entwickeln, die die Leistungsfähigkeit und die Differenziertheit des Denkens beeinträchtigen.

Die raschere Wahrnehmung und offenere Lernbereitschaft von Kindern legt also offenbar die Grundlagen für Strukturen der Verarbeitung, die sich lebenslang auswirken. Das langsamere und bedächtigere Denken des Erwachsenen kann dagegen auf umfassendere Erfahrung und ausgebildete Interpretationsmuster zurückgreifen, die in Betracht gezogen werden und zu einer differenzierteren Lösung führen.

Lernen in der Kindheit, Lernen im Alter

Der Grund dafür, dass Kinder rasch und ältere Menschen langsamer lernen, ist ganz einfach: Wenn Organismen umso besser in ihrer Umwelt überleben, je besser sie diese kennen, so ist es gut, zunächst rasch zu lernen und dann immer langsamer. Nur so wird man in relativ kurzer Zeit die wahren Parameter der Umgebung zumindest einigermaßen genau abschätzen können und sich ihnen danach immer mehr nähern (S. 281).

Ältere Menschen lernen zwar langsamer als junge, dafür haben sie jedoch bereits sehr viel gelernt und können dieses Wissen dazu einsetzen, neues Wissen besser zu integrieren. Je mehr man schon weiß, desto besser kann man neue Inhalte mit bereits vorhandenem Wissen in Verbindung bringen. Da Lernen zu einem nicht geringen Teil im Schaffen solcher internen Verbindungen besteht, haben ältere Menschen beim Lernen sogar einen Vorteil (Spitzer 2002, S. 283).

Was Kinder zum Lernen brauchen

Aus den vorangegangenen Überlegungen ergibt sich für das kindliche Lernen vor der Schule:

  • Kinder brauchen, um ihre Lernfähigkeit und Lernbereitschaft zu entwickeln, sichere und befriedigende Beziehungen zu ihren Betreuern.
  • Eine umfassende Anregung durch die soziale und materielle Umgebung erlaubt, leistungsfähige und angemessene Wahrnehmungs- und Denkmuster auszubilden.
  • In den Jahren vor dem Schulbesuch muss die Muttersprache vollständig erworben und ihre regelgerechte Benutzung erworben werden, da sie später nicht mehr mit der gleichen Selbstverständlichkeit angeeignet werden kann.

1.3.3 Lernen und Sprache

Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass Kinder ihre Umgebung zunächst körperlich handelnd erkunden, dass sich darauf aufbauend die Fähigkeit entwickelt, sie als Vorstellung zu speichern und diese Vorstellungen miteinander abzugleichen, und dann erst die angemessenen Handlungsweise daraus abzuleiten.

Die Bedeutung des vorsprachlichen Lernens

Auch Erwachsene nutzen körperliches Lernen und Phantasie, um mit spezifischen Situationen zurecht zu kommen. Der Unterschied zwischen Kindern im Kindergartenalter und dem Erwachsenen besteht darin, dass die kindlichen Erfahrungen zunächst noch fast ausschließlich in und mit diesen "sensomotorischen" und "symbolischen" Verfahren erfasst, festgehalten und verarbeitet werden. Allerdings haben Kinder im Vorschulalter längst sprechen gelernt, die Sprache ist für sie zum entscheidenden Kommunikationsmittel geworden, über das sich Beziehungen aufbauen und Verständigung herstellen lassen. Im Laufe der Vorschuljahre wird sie aber auch immer mehr dazu herangezogen, um Probleme über die Kombination sprachlicher Konzepte zu lösen und Zusammenhänge zu verstehen. Die sprachliche Verarbeitung wird sich dabei in vielen Bereichen als erfolgreicher herausstellen und die dominierende Rolle in der Verarbeitung übernehmen. Aber das ist ein Prozess, der in diesem Alter noch im Gange ist.

Sensomotorisches und symbolisches Lernen

Das sensomotorische Lernen geht von der Wahrnehmung der Ausgangssituation aus, sucht über das probeweise Handeln Lösungswege zu erschließen und wird, sofern sie Erfolg bringen, diese Lösungen als sicheren Handlungsablauf speichern. Diese Speicherung wird spätestens vom zweiten Lebensjahr an zugleich immer auch als Vorstellungsbild festgehalten und eröffnet somit die Möglichkeit, bei Vorliegen einer abweichenden Ausgangssituation, diese bildliche Speicherung zu bearbeiten, ohne eine abweichende Handlungsweise auch tatsächlich auszuführen. Erst das Ergebnis dieser Bearbeitung wird dann zu einer veränderten Handlung führen.

Die bildliche Vorstellung stößt dabei auf enge Grenzen, die durch die sprachliche Verknüpfung und Strukturierung der Vorstellungsbilder erweitert werden. Denn nur die sprachliche Beschreibung vermag die einzelnen Handlungssequenzen zu verbinden und in eine Reihenfolge zu bringen. Es ist das ab dem dritten Lebensjahr entstehende Erzählen, das sprachliches Nachstellen von Handlungen und deren Vorstellungsbilder miteinander verbindet. Sie bleibt zunächst eine auf vorgestellte Handlungen bezogene Sprechtätigkeit, führt jedoch dazu, dass Vorstellungen nun immer mehr mit sprachlichen Mitteln dargestellt werden. Um sich über längere Zeit in der Welt der Vorstellungen bewegen zu können, müssen sie zunächst über die spielerische Aktivität, zunehmend auch im erzählenden Sprechen "realisiert" werden. Erst allmählich wird es möglich, anhaltende Vorstellungen auszuarbeiten, ohne sie in Spiel und Erzählung zu konkretisieren.

Über Kombination, Reihung und Vergleich bildlicher Vorstellungen werden aber längst "intelligente Operationen" ausgeführt. Schon im Säuglingsalter wird die Regelhaftigkeit sich wiederholender Handlungsrituale erkannt, indem die vielen Erinnerungsbilder sozusagen übereinander kopiert und so die Gemeinsamkeiten herausgearbeitet werden. Die Erinnerung vergleichbarer Handlungssituationen ermöglicht, Rückschlüsse auf die Handlungsweise in einer laufenden Situation zu ziehen. Die Fähigkeit, mit inneren Bildern zu operieren, führt zu brauchbaren Problemlösungen, insbesondere im Bereich der sozialen Interaktionen, aber auch im Umgang mit der gegenständlichen Welt.

Die Anfänge sprachlich gelenkten Denkens

Erst allmählich wird Sprache auch zum Lösen von Problemen herangezogen. Zunächst geschieht das, indem das Kind laut mit sich selber spricht: Vor ein Problem gestellt, wird es, auch wo niemand anwesend ist, der zuhören und antworten könnte, halblaut vor sich hinsprechen. Bald darauf löst es Probleme in stummem Nachdenken. Unsere Denktätigkeit beruht zu weiten Teilen auf dem inneren Operieren mit sprachlichen Konzepten, aber die Verinnerlichung des Sprechens zu dieser Weise des Denken beginnt sich im Vorschulalter erst herauszubilden und ist bis zum Schuleintritt so weit fortgeschritten, dass das laute Sprechen überflüssig wird.

Die wachsende Ablösung der Sprache von der alltäglichen Kommunikation zeigt sich auch an der veränderten Sprachauffassung, die Kinder um das fünfte Lebensjahr herum ausbilden. Während sie nach dem Spracherwerb zunächst Wortbezeichnung und bezeichnete Sache direkt aufeinander beziehen und deshalb beispielsweise darauf bestehen, dass jedes Ding oder jede Handlung nur mit dem einen "richtigen" Wort benannt wird, lösen sie jetzt allmählich die Konzepte von Dingen oder Handlungen (also die inneren Vorstellungen) von der sprachlichen Benennung ab.

Die Sprache wird nun als ein eigenes System der Benennung verstanden, neben dem es ein System der Konzepte gibt, die sich auf Tätigkeiten und Sachen beziehen.

Was das für die kindliche Weltaneignung bedeutet

Als Ergebnis dieser Überlegungen können wir festhalten, dass

  • Kinder im Alter von zwei bis sechs Jahren Situationen und Erlebnisse noch stark "körperlich" verarbeiten,
  • dass ihr Bewusstsein und ihre Selbstwahrnehmung vor allem von ihren körperlichen Fertigkeiten und von den symbolischen Bildvorstellungen geprägt werden, die sie in ihren endlosen Spielen veräußerlichen und die sie in sprachliche Sequenzen zu ordnen lernen,
  • dass sich schließlich allmählich über die wachsende sprachliche Kommunikationsfähigkeit ein sprachlich dominiertes Denken zu entwickeln beginnt und
  • dass sie in allen diesen Bereichen Strukturen ausbilden, die ihre Wahrnehmungen, ihre Handlungsweisen und ihre Denkmuster auch später prägen werden.

11.10.2004